"Pegida"-Debatte Das Abendland ist müde

Düsseldorf · Die islamfeindliche "Pegida"-Bewegung führt das Abendland in ihrem Titel. Wie schon viele vor ihr sieht sie den Okzident als bedroht an. Doch was verbirgt sich hinter diesem schillernden Begriff - und wie ist er entstanden?

 Der Kölner Dom im Abendlicht.

Der Kölner Dom im Abendlicht.

Foto: dpa, obe rf

Die islamfeindliche "Pegida"-Bewegung führt das Abendland in ihrem Titel. Wie schon viele vor ihr sieht sie den Okzident als bedroht an. Doch was verbirgt sich hinter diesem schillernden Begriff - und wie ist er entstanden?

Wenn vom Untergang des Abendlandes die Rede ist, schwingt oft ein spöttischer Unterton mit. Wer etwa den Verfall der politischen Sitten, der Justiz, des Fairplay im Sport oder das Verschwinden des ehrbaren Kaufmanns moniert, muss sich oft anhören, dass er mal wieder "das Abendland in Gefahr" sieht. Jetzt beziehen sich die "Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands" ("Pegida") ganz explizit auf diesen schillernden Begriff. Er scheint eben so gut die Werte und die Kultur zusammenzufassen, die gegen fremde Einflüsse und zerstörerische Elemente verteidigt werden müssen.

Doch was ist es wirklich - dieses Abendland? Welche Funktion hatte es einst und hat es jetzt? Und ist der Begriff noch zeitgemäß? Erstmals genannt wurde er vom Schweizer Theologen Kaspar Hedio. Der geschichtlich interessierte Reformator, ein Zeitgenosse Martin Luthers aus dem 16. Jahrhundert, sprach von den Abendländern, also dem christlich geprägten Europa, als er seine Weltchronik verfasste. Und so verwundert es nicht, dass Luther selbst den Gegenbegriff prägte, als er in seiner Bibelübersetzung von den "Weisen aus dem Morgenland" sprach. Der Gegensatz würde heute "Pegida" gut in den Kram passen. Denn ist der Kampf des Abendlands gegen das Morgenland nicht eine Grundkonstante der Geschichte?

Es war vor allem die deutsche Romantik, die den Begriff, der auch in anderen Teilen Europas Karriere machte, ideell überhöhte. Im Abendland kamen nach Ansicht der Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel die drei Stränge des römischen, christlichen und germanischen Erbes zusammen, die die gemeinsame Kultur Europas ausmachen. Das Abendland war mehr als eine geografische Bezeichnung des westlichsten Teils der über lange Zeit nur eingeschränkt bekannten Welt, eben die Länder aus der Himmelsrichtung, in der die Sonne untergeht. Und das Morgenland - egal ob christlich wie das Byzantinische Reich oder islamisch wie die arabischen und persischen Völker - war mehr als der Ort jener Himmelsrichtung, in der die Sonne aufgeht.

Pegida: Bonn stellt sich quer
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Die Geschichte dieses Abendlands ist eine doppelte: zum einen eine Geschichte der Abgrenzung, die schon begann, als der Begriff noch gar nicht geprägt war. Als die christliche Kultur des Westens im Mittelalter zu einer ersten Blüte reifte - mit einer hochkomplexen, doch zugleich erlebbaren Religion, kühnen Gotteshäusern, freien Städten, produktiver Landwirtschaft und einem neuen Geistesleben -, da entstand zeitgleich ein scharfer Antisemitismus. Gegenüber den Juden, die damals eine Brücke zwischen der überlegenen arabisch-muslimischen und der aufstrebenden christlichen Kultur bildeten, benahmen sich etliche dieser Christen wie mordgierige Barbaren. In gleicher Weise wateten diese Christen im Blut der Juden und Muslime, als sie 1099 im ersten Kreuzzug überraschend Jerusalem eroberten. "Gott will es", rief eine Menge in Clermont-Ferrand, als Jahrhundert-Papst Urban II., ein glänzender, juristisch gebildeter hochadliger Diplomat, zum Kampf gegen die Ungläubigen aufrief.

Die Ausgrenzung setzte sich fort: Die Christen eroberten den heidnischen Osten jenseits der Elbe, dann zerstörten sie Konstantinopel, das Zentrum der morgenländischen Christenheit, zugleich die reichste und größte Stadt der Welt, vernichteten schließlich die altamerikanischen Kulturen erst in Mittel- und Südamerika, schließlich in Nordamerika, ehe sie auch so gewaltigen Zivilisationen wie der indischen und chinesischen ihren Willen aufdrückten.

Pegida in der Bonner Innenstadt
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Die Geschichte des Abendlands - sie war eine Erfolgsstory, aber auch blutig, intolerant und überheblich. Der Höhepunkt der Abgrenzung erfolgte im 20. Jahrhundert. Erst im mörderischen Bürgerkrieg der verwandten Nationen im Ersten Weltkrieg, dann im Holocaust und dem Vernichtungskrieg von Nazi-Deutschland gegen die Sowjetunion und andere Länder: Überall wurde das Abendland bemüht. Es überlebte sogar diese Schrecken und die Prognose des Privatgelehrten Oswald Spengler ("Der Untergang des Abendlandes"), wonach es einmal der "russischen Kultur" unterliegen würde. Selbst der Gründer der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, nutzte das Abendland als Kampfbegriff - gegen den kommunistischen Osten, für die Einheit des freiheitlichen Europa. In dieses System der Abgrenzungen reiht sich auch die "Pegida"-Bewegung ein, wenn sie das Abendland vor der Islamisierung bewahren will.

Doch es gibt auch den anderen Begriff des Abendlands. Es entstand zur gleichen Zeit, in der die Christen des Westens intellektuell, politisch und wirtschaftlich erwachten. Im 12. Jahrhundert lernten die Völker des Westens - Engländer, Franzosen, Deutsche, Polen, Ungarn, Italiener, Spanier und Skandinavier - von denen des zivilisatorisch überlegenen Ostens. Sie übersetzten die wissenschaftlichen Werke des Orients - unter massiver Hilfe der Juden. Sie ahmten die hochproduktive Technik und Wirtschaft der arabisch-persischen Kultur nach. Später lernten sie auch von den Indern und Chinesen.

Und sie waren gute Schüler. Bald entwickelten sie Technik, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik explosiv weiter, erst im Einklang mit der Kirche, dann mit neuer Kirche, dem Protestantismus, schließlich in einer neuen Art der Erkenntnis, der Aufklärung. Es entstand eine völlig neuartige Zivilisation. Sie erfand die unveräußerlichen Menschenrechte (abgeleitet aus der Nächstenliebe des Christentums), den Individualismus, die Religions-, Handlungs- und Gedankenfreiheit, die Gewaltenteilung. Es war das Abendland des Fortschritts.

Dieses Abendland lebt von der Aufnahme fremder Einflüsse, vom friedlichen Streit um die beste Lösung, von Toleranz und selbst gewählter Überzeugung. Der Philosoph Karl Popper interpretierte es als "offene Gesellschaft". Und dieses Abendland ist tatsächlich in Gefahr, weil seine Prägekraft nachlässt, weil seine lauen Anhänger sich der Werte und Wurzeln nicht mehr bewusst sind. An die Stelle des Stolzes auf diese Tradition sind Gleichgültigkeit und Beliebigkeit getreten. Die zivilisatorische Kraft wird relativiert, um Neuankömmlinge nicht auszugrenzen. Deshalb haben Radikale - ob islamistisch, rechts- oder linkspopulistisch - derzeit großen Zulauf. Dabei ist die Verwurzelung in dieser Tradition - christlich, liberal, sozial und humanistisch - das, was das Abendland auszeichnet und die Welt zum Positiven verändert hat.

(RP)
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