Gescheiterte Verhandlungen So beendete die FDP die Jamaika-Sondierungen

Berlin · Jamaika war zwar nicht die Traumkonstellation der Deutschen. Aber Christian Lindner ist derjenige, der sich mit dem Abbruch der Sondierungsverhandlungen zum Buhmann der Nation macht. Was trieb den FDP-Chef an, auszusteigen? Eine Analyse.

Irgendwann zwischen 22 und 23 Uhr am Sonntagabend surrt aus einem Drucker in der Landesvertretung Baden-Württemberg eine DIN-A4-Seite. Auf dieser Seite haben die Liberalen ihren Ausstieg aus den Jamaika-Sondierungen festgehalten. Zweimal gefaltet verschwindet der Ausdruck in der Jackett-Tasche von Christian Lindner.

Es ist jetzt 23.30 Uhr. Lindner kehrt in den Verhandlungsraum zurück. Er verkündet der Kanzlerin, was auf dem Zettel steht und wovon Lindner spätestens seit Donnerstagabend überzeugt ist: Union, FDP und Grüne verfügen über keine gemeinsame Basis, um eine stabile Regierung zu bilden und um das FDP-Versprechen einer anderen Politik einzulösen. CDU-Chefin Angela Merkel, die ewige Siegerin komplizierter nächtlicher Verhandlungen, ist konsterniert. Sie unternimmt einen letzten Versuch, den FDP-Chef, der ihr persönlich viel weniger nahesteht als beispielsweise die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt, doch zu überzeugen, Verantwortung fürs Land zu übernehmen. 20 unerfreuliche Minuten.

Dann verlässt Lindner den Verhandlungsraum und rauscht mit seinen Unterhändlern im Gefolge raus in die kalte Novembernacht, wo Kamerateams und Berichterstatter seit Stunden ausharren. In dem Moment wird allen klar, was die Stunde geschlagen hat. Lindner hält noch immer seinen gefalteten Zettel in der Hand, spricht aber frei und sagt, was er zuvor der Kanzlerin erklärt hat. Ein Donnerschlag für die Republik.

Lindner ist derjenige, der sich zum Buhmann der Nation macht. Jamaika war zwar nicht die Traumkonstellation der Deutschen. Aber Stabilität ist ihnen allemal lieber als politische Krise. In den Stunden nach Lindners spektakulärem Auftritt, der Fans der amerikanischen US-Polit-Serie "House of Cards" Respekt abnötigt, fegt ein Sturm der Kritik über ihn und seine FDP hinweg. Im Nachrichtendienst Twitter taucht sein Wahlplakat mit dem Slogan auf "Nichtstun ist Machtmissbrauch" - Nichtregieren ist es ebenso, suggeriert der Tweet. Die Grünen und andere Kritiker werfen Lindner vor, Populismus zu betreiben oder diesen zu befördern.

Lindner wird gewusst haben, dass sein Schritt Empörung auslösen wird. Lieber hätte er sich sicherlich mit der Union vor die Kameras gestellt und erklärt, dass man mit den Grünen nicht zusammenkomme. Dem Vernehmen nach versuchte er am Sonntagmorgen die Unionsunterhändler von einem Abbruch der Sondierungen zu überzeugen - ohne Erfolg.

So reagiert das Netz auf Christian Lindner
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Foto: dpa, mkx hjb

Lindners Schritt kann für die Unterhändler eigentlich nicht überraschend kommen. Hinter verschlossenen Türen hat er seit Donnerstagabend ein Aus für Jamaika mehrfach ins Spiel gebracht. Die CDU, der das Eingehen auch abenteuerlicher Kompromisse nie wirklich geschadet hat, erkennt aber nicht, dass der FDP-Chef sich innerlich längst von Jamaika abgesetzt hat. Während die Liberalen schon an ihrem Ausstiegspapier tippen, schicken Unionsleute noch SMS, dass die Lage ernst, aber nicht hoffnungslos sei.

Angst vor Ruf als "Umfallerpartei"

Dementsprechend perplex sind die meisten Unterhändler von CDU und CSU, als Lindner vor die Kameras schreitet. Gleiches gilt für die Grünen. "Kein Wort, kein Gruß, nichts - so verlässt man doch nicht Verhandlungen", sagt ein Unionsmann hinterher. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) steht anderntags die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben über die Entscheidung des Parteichefs, mit dessen FDP er in NRW so reibungslos regiert.

Die Vorwürfe, keine Verantwortung zu zeigen, die Republik in eine Krise zu stürzen, die Verhandlungspartner hintergangen zu haben, lässt Lindner sich alle lieber gefallen, als noch ein einziges Mal die FDP auch nur in die Nähe des Verdachts zu bringen, sie wäre ein "Umfaller". Diese Sorge treibt den FDP-Chef mehr um als alles andere. Zur Halbzeit der Jamaika-Sondierungen sagte er in einem Interview, dass es für die FDP besonders wichtig sei, "Akzente" in einer Regierung zu setzen. Für die FDP gälten andere Maßstäbe, sagte er. Die FDP würde schneller als "Umfallerpartei" betitelt.

Dieser Titel ist das Trauma der Liberalen. Sie lassen Lindner das Jamaika-Aus mit so merkwürdigen Sätzen begründen wie: "Besser nicht regieren als falsch zu regieren." Und immer wieder führt er die "Prinzipien" an. Ob er in der Öffentlichkeit tatsächlich des Verrats der Grundsätze gegeißelt worden wäre, wenn der Soli-Ausstieg unter FDP-Regierungsbeteiligung nur zu 75 Prozent erfolgt wäre, wird man nun nicht mehr erfahren.

Lindner hat die Liberalen als Ein-Mann-Kommando zurück in den Bundestag geführt. Mit einem auf seine Person zugeschnittenen und auf Stimmenmaximierung angelegten Wahlkampf gelang ihm ein fulminanter Wiedereinzug ins Parlament.

Der 38-Jährige habe einen perfektionistischen Anspruch an Politik, sagt einer, der Lindner aus der schwarz-gelben Regierungszeit von 2009 bis 2013 kennt. Kompromisse seien noch nie so sein Ding gewesen, befindet ein anderer, der damals auch eng mit ihm zusammenarbeitete.

So unterschiedlich die Lage der Liberalen damals war und heute ist, gibt es doch eine verblüffende Parallelität von Lindners Abgang als Generalsekretär 2011 und seinem Ausstieg aus den Jamaika-Sondierungen 2017. Für viele Beteiligte kam das Aus jeweils überraschend, und es hinterlässt Wut und Ratlosigkeit. "Auf Wiedersehen", sagte er als Letztes, als er 2011 abging und auch in der Nacht zu Montag. 2011 meinte er das ernst, wie man vor allem in den vergangenen vier Jahren sehen konnte. 2017 dürfen alle, die darauf setzen, dass sein Jamaika-Ausstieg Lindner schwächen wird, den Abschiedsgruß als Warnung auffassen.

Denn etwas ist anders als in der Zeit zwischen 2009 und 2013. Damals war die FDP eine unglaublich zerstrittene Partei. Das Berliner Regierungsviertel ist ein hartes Pflaster. Aber selten hört man Menschen so gehässig übereinander reden, wie es bei den Liberalen in der damaligen Zeit an der Tagesordnung war.

Die FDP heute steht hinter ihrem Chef. Lindner legt bei seiner Pressekonferenz am Montag Wert darauf, dass seine Gremien seine Entscheidung einstimmig mitgetragen haben. Das war nicht immer so bei den Liberalen. Heute ersparen sich auch jene, die von alten Zeiten erzählen können, jede Form von Geläster.

Unmut aber macht sich an der Basis breit. Im Wahlkampf war es dem FDP-Frontmann gelungen, neue junge Wählerschichten für die Liberalen zu gewinnen und zugleich die alten Stammwähler bei der Stange zu halten oder zurückzugewinnen. Unter den Älteren, die staatspolitische Verantwortung mit großen Buchstaben schreiben, ist der Ärger über die geplatzten Sondierungen in Teilen groß. Was für Lindner Umfaller-Politik ist, zählt bei ihnen zur politischen Normalität. Da ist auch die Abschaffung von drei Viertel Soli besser als keine Abschaffung.

(qua)
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