Interview mit SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück "Da ist etwas aus dem Lot geraten"

Berlin · Der SPD-Kanzlerkandidat spricht im Interview mit unserer Redaktion über den Zusammenhalt der Gesellschaft, seinen Wahlkampf und seine Frau Gertrud.

 Peer Steinbrück spricht in seinem Büro in der SPD-Zentrale mit den Redakteurinnen Rena Lehmann (M.) und Eva Quadbeck.

Peer Steinbrück spricht in seinem Büro in der SPD-Zentrale mit den Redakteurinnen Rena Lehmann (M.) und Eva Quadbeck.

Foto: Georg Hilgemann / newsimages.de

Warum machen sie ausgerechnet das Thema Pflege zur Chefsache?

Steinbrück Weil wir in diesem Bereich erhebliche Defizite haben: Wir brauchen mehr Pflegepersonal, weil die Pflegebedürftigen mehr Zeit für Zuwendung brauchen. Deshalb wollen wir in den nächsten vier Jahren in Deutschland 125000 zusätzliche, tariflich entlohnte Stellen für Pflegerinnen und Pfleger schaffen.

Und wer bezahlt das?

Steinbrück Wir wollen das durch eine Erhöhung des Beitrags zur Pflegeversicherung um 0,5 Prozentpunkte finanzieren. Das ist eine gerechte und faire Lösung. Gleichzeitig geht es darum, ein Berufsbild "Pflege" einzuführen.

Sollten öffentliche Stellen wie in Dänemark in zwei jährlichen Hausbesuchen aktiv auf ältere Menschen zugehen?

Steinbrück Ich würde mir wünschen, dass wir im gesamten Pflegebereich das skandinavische Niveau erreichen. Ich kenne zwar viele kommunale und private Einrichtungen, die einen solchen Service anbieten, aber der Umfang solcher Dienstleistungen ist noch nicht ausreichend. Generell wird es darum gehen, älteren Bürgern die Chance zu geben, so lange es geht, in ihrem vertrauten Zuhause zu bleiben. Die schwarzgelbe Bundesregierung hat die Förderung für altersgerechtes Wohnen in Höhe von 100 Millionen Euro gestrichen. Wir wollen das rückgängig machen.

Fährt ein Kanzlerkandidat eigentlich in den Sommerurlaub?

Steinbrück Ich mache jetzt einige Sommerreisen mit vielen Veranstaltungen. Aber es wird auch eine Woche geben, in der ich nicht unterwegs bin. Da werde ich nochmal Luft holen und zwar zuhause in Godesberg, ehe die heiße Phase Mitte August beginnt.

Was hat Sie auf Ihren bisherigen Reisen durch die Republik am meisten überrascht?

Steinbrück Die Neugier der Menschen hat mich überrascht. Ich habe festgestellt, dass die Themen, die die SPD setzt, durchaus die richtigen sind.

Wie weit ist die Wirklichkeit des Politbetriebs in Berlin vom Alltag der Menschen im Land entfernt?

Steinbrück Ziemlich weit! Die politisch-mediale Käseglocke in Berlin ist weit weg von den Stimmungen und Wahrnehmungen, die man im Land spüren kann.

Woran liegt das?

Steinbrück In Berlin geht man davon aus, dass die Menschen sich am Tag drei Stunden mit Politik beschäftigen - was sie natürlich nicht tun können. Auch die mediale Verwertungsgeschwindigkeit in Berlin hat enorm zugenommen. Man kämpft täglich um Klicks, Quote und Auflage, daraus entsteht eine wahnsinnige Beschleunigung, die zuweilen schon sich überschlagende Züge angenommen hat.

Was tun Sie, um sich zu erden?

Steinbrück Ich führe ein ganz normales Leben. Ich kaufe selbst ein, fahre zu Verabredungen mit meinem Fahrrad, besuche meinen Friseur, rede mit den Leuten. Die Vorstellung, dass Politiker vollkommen abgehoben leben und selbst nicht mehr für sich sorgen können, ist völlig falsch. Auf mich trifft das jedenfalls nicht zu.

Auf welche Themen sind Sie denn von den Menschen aufmerksam gemacht worden?

Steinbrück Viele Menschen treibt der bröckelnde Zusammenhalt in der Gesellschaft um. Das hat sich mit der Banken- und Wirtschaftskrise nochmal verstärkt. Viele haben den Eindruck, da ist etwas aus dem Lot geraten, da wird gesellschaftlicher Zusammenhalt zersetzt. Das Bildungssystem ist nicht durchlässig, die Finanzausstattung vieler Kommunen ist marode. 7,8 Millionen Menschen arbeiten zu einem Stundenlohn unter 8,50 Euro. Das alles sind Symptome, die auf eine wachsende Spaltung der Gesellschaft in Oben und Unten hindeuten.

Gleichzeitig hatten noch nie so viele Menschen einen Arbeitsplatz wie heute….

Steinbrück Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte lautet: Leiharbeit, Zeitarbeit, Werkverträge haben erheblich zugenommen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs hat zwar auch zugenommen, aber nicht das Arbeitsvolumen insgesamt. Etwa 22 Prozent der abhängig Beschäftigten werden schlecht bezahlt und sind in unsicheren Verträgen.

Also lieber keine Arbeit als schlechte Arbeit?

Steinbrück Ich will gute Arbeit und fair bezahlte Arbeit.

Selbst mit einem Mindestlohn von 8,50 Euro wird es weiter Aufstocker geben…

Steinbrück Es wäre trotzdem ein erheblicher Fortschritt. Zurzeit arbeiten 1,4 Millionen Menschen Vollzeit und müssen anschließend von den Steuerzahlern aufgestockt werden. Das kostet elf Milliarden Euro!

Sie betonen das Thema soziale Gerechtigkeit sehr stark. Warum ist es bisher trotzdem kein Wahlkampfschlager?

Steinbrück Warten Sie es ab! Die Strömung ist da, die Frage ist, ob sich das im Laufe eines Wahlkampfs noch konkretisiert. Die SPD hat 1998 rund 20 Millionen Wähler gehabt. 2009 hatte sie nur noch zehn Millionen Wähler. Wenn wir die Hälfte der Wähler von 1998 zurückgewinnen, dann gewinnen wir die Wahl.

Können Sie nachvollziehen, dass Menschen das Thema soziale Gerechtigkeit nicht mit Ihrer Person verbinden?

Steinbrück Ich glaube nicht, dass das so ist. Ich habe bereits 2002 in Nordrhein-Westfalen über die Fliehkräfte in unserer Gesellschaft gesprochen. Mein Buch "Unterm Strich" beschäftigt sich damit. Diese Neigung, mir Images anzuheften, die sich nicht belegen lassen aus meiner politischen Biographie, kann ich nicht nachvollziehen. Das sozial Gerechte ist in vielen Fällen auch das ökonomisch Vernünftige. Das habe ich immer vertreten und das wird die SPD vermitteln.

Die SPD lag zuletzt bei 22 bis 26 Prozent. Wie erhalten Sie sich den Glauben daran, dass Rot-Grün doch noch zu schaffen ist?

Steinbrück Aus der Erfahrung vergangener Wahlkämpfe sage ich: Das Rennen entscheidet sich in den letzten vier bis sechs Wochen vor der Wahl. Es entscheidet sich nicht über Umfragen und Zeitungskommentare.

Die Grünen sind inzwischen skeptisch, dass sie mit der SPD eine Mehrheit bekommen...

Steinbrück Sie werden immer einzelne Stimmen finden, die skeptisch sind. Mit den entscheidenden Repräsentanten der Grünen sind wir völlig klar: Wir wollen diese Bundesregierung ablösen. Die erste Nachricht ist doch, dass Frau Merkel zusammen mit der FDP keine Mehrheit mehr haben wird. Damit ist die schwarzgelbe Koalition am Ende. Das war's dann mit der sogenannten "Traumkoalition", die für viele Bürger ein Alptraum war…

Rot-Grün wird wahrscheinlich aber auch keine eigene Mehrheit bekommen. Gibt es am Ende dann doch eine große Koalition?

Steinbrück Das ist nicht das, was die SPD anstrebt. Und ich für mich persönlich habe das von Beginn an ausgeschlossen. Dem gibt es nichts hinzuzufügen.

Wäre es dann nicht sinnvoll, eine große Koalition dann auch einfach offiziell auszuschließen?

Steinbrück Die SPD sagt: Wir wollen keine große Koalition. Wir schließen definitiv aus, eine Koalition mit der Linkspartei einzugehen oder auch, uns von denen tolerieren zu lassen. Ansonsten gibt es keine Veranlassung Grundsatzbeschlüsse zu fassen, die langfristig ein Klotz am Bein sein können. Demokratische Parteien müssen prinzipiell miteinander koalitionsfähig sein. Wir haben 2005 bis 2009 unsere Erfahrung mit einer großen Koalition gemacht. Wir waren der leistungsfähigere Teil und sind dafür aber nicht belohnt worden.

Die Union bekennt sich im Wahlprogramm nicht klar zur FDP als Koalitionspartner. Wird von denen die große Koalition angebahnt?

Steinbrück Das müssen Sie Angela Merkel fragen. Ich vermute aber, dass sie auch einsieht, dass es eine schwarzgelbe Mehrheit nicht wieder geben wird.

Gehen Sie davon aus, dass man im September rückblickend sagen wird, der öffentliche Streit mit Parteichef Gabriel und Ihr emotionaler Auftritt mit Ihrer Ehefrau waren der Wendepunkt im Wahlkampf?

Steinbrück Nein. Es gibt nicht den Urknall, der Wahlkämpfe bestimmt. Im Übrigen ist das Thema der öffentlichen Auseinandersetzung für die SPD erledigt. Ich stehe dazu, dass der Weckruf 100 Tage vor der Bundestagswahl erforderlich war. Fall erledigt.

Der gemeinsame Auftritt mit Ihrer Frau ist überwiegend positiv kommentiert worden. Wird es weitere Auftritte mit ihr geben?

Steinbrück Ja, aber es wird keine Inszenierungen geben. In dieser Art werden wir das auch nicht wiederholen. Sie wird in dem einen oder anderen Interview mit mir auftauchen. Und sie wird mich ab Mitte Juli, wenn sie als Lehrerin an ihrem Gymnasium in den Ruhestand verabschiedet wurde, auch das eine oder andere Mal bei Veranstaltungen begleiten.

Mit welchen Themen wollen Sie das Ruder im Wahlkampf herumreißen?

Steinbrück Das Thema der Gerechtigkeit und der Sicherung der ökonomischen Grundlagen wird den Wahlkampf bestimmen. Wir sagen: Was sozial gerecht ist, ist auch ökonomisch vernünftig. Wir wollen mehr Gemeinsinn, mehr Gemeinwohlorientierung. Wir wollen den Zusammenhalt der Gesellschaft sichern. Konkret meine ich damit zum Beispiel den Mindestlohn, die gleiche Bezahlung von Frauen und Männern, bezahlbares Wohnen, eine umfassende Verbesserung der Pflege und ein Rentensystem, das Menschen, die ausgebrannt sind und nicht mehr arbeiten können, nach 45 Versicherungsjahren ab dem 63. Lebensjahr eine abschlagfreie Rente eröffnet. Und schließlich müssen wir mehr in unsere Infrastruktur investieren. Im Dienste der Generationengerechtigkeit wollen wir mit öffentlichen Finanzen solider umgehen als die amtierende Bundesregierung. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Diese Regierung hat 100 Milliarden Euro neue Schulden gemacht — und das unter glänzenden Rahmenbedingungen.

Eine Ursache war die Schuldenkrise.

Steinbrück Ich muss doch sehr bitten! Da sprudeln die Steuereinnahmen. Da gibt es Entlastungen auf dem Arbeitsmarkt. Da gibt es Staatsanleihen für 0 Prozent Realzins und trotzdem machen die so viele neue Schulden. Die können nicht mit Geld umgehen. Und nun verspricht Merkel Wahlkampfgeschenke in Höhe von 50 Milliarden Euro, für die sie keinen einzigen Finanzierungsvorschlag macht.

Braucht die SPD eine Agenda 2020?

Steinbrück Die SPD plant etliche Reformen: Die Bürgerversicherung, die Verbindung der Industrialisierung mit der digitalen Revolution, Ausbau der Infrastruktur, Verbesserung der Bildung, mehr Kinderbetreuung.

Sie haben mal gesagt: Der Brockhaus sei das Buch, das Sie zur Hand nehmen, wenn Sie nicht mehr weiter wissen. Er wird — auch wegen Wikipedia - ab nächstem Jahr nicht mehr verlegt. Muss die SPD sich in der digitalen Revolution auch neu erfinden?

Steinbrück Ich war gefragt worden, nach welchem Buch ich greife. Wikipedia benutze ich natürlich auch. Wenn meine Frau aber beim Scrabble neue Wortschöpfungen erfindet, ist der Brockhaus die schnellste Nachschlagemöglichkeit. Und was neue Entwicklungen zum Beispiel im Bereich Internet betrifft: Dazu habe ich Professorin Gesche Joost ganz bewusst in mein Kompetenzteam aufgenommen. Für die SPD ist ziemlich klar, dass die digitale Revolution alle Bereiche in unserer Gesellschaft durchdringen wird und sie sich deshalb all diesen Fragen auch zu stellen hat. Sie wird das Chancenpotenzial der digitalen Revolution fördern müssen.

Sehen Sie es als Problem, dass die SPD als Partei wahrgenommen wird, die sich mit sich selbst beschäftigt?

Steinbrück Die SPD war immer bunt und immer eine diskussionslustige Partei — anders zum Beispiel als die CDU, wo einfach die Ansage von oben kommt und dann alle brav mit dem Kopf nicken. Aber jetzt kommt es darauf an, dass wir uns in den verbleibenden Wochen bündeln und unsere Kräfte vereinen. Übrigens: Es ist schon erstaunlich, wie wenig die Defizite der Regierung im Licht der Öffentlichkeit stehen.

Für die Ablenkung haben Sie ja gesorgt…

Steinbrück Was heißt Ablenkung? Diese Regierung hat nichts zustande gebracht. Es gab keine Pflegereform, keine Rentenreform, die Bundeswehrreform versackt, die Energiewende ist die größte Investitionsbremse und von der versprochenen Steuerreform ist nix zu sehen. Auch die Frage nach dem internationalen Ansehen Deutschlands in Europa ist doch wohl von größerer politischer Relevanz als das Innenleben der SPD.

Was versprechen Sie sich von dem TV-Duell mit der Kanzlerin?

Steinbrück lächelt. In der Mischung von Substanz und Unterhaltung und ein bisschen Witz kann ich mir schon vorstellen, dass das gut läuft. Es wäre nahe liegend gewesen, zwei solche Duelle zu machen. Aber Frau Merkel will das nicht. Sie wird schon wissen, warum nicht…

Was muss die Regierung im Ausspähskandal unternehmen?

Steinbrück Sie darf nicht mehr nur diplomatisch auftreten. Ich erwarte von Frau Merkel, dass sie auf Regierungsebene klärt, was da eigentlich los ist. Wenn sich die Berichte als zutreffend erweisen, dann ist das bestürzend. Das würde ja bedeuten, dass die Behauptung der Amerikaner, die Abhörmaßnahmen dienten ihren legitimen Sicherheitsinteressen, nicht mehr stimmt. Der Vorwurf, dass die Amerikaner uns angeblich bis in die Bundesregierung hinein ausgespäht haben, ist ungeheuerlich.

Kann es sein, dass die Bundesregierung tatsächlich nichts davon gewusst hat?

Steinbrück Es gibt zwei Möglichkeiten: Die erste Variante ist, dass die Regierung es gewusst und hingenommen hat. Die zweite Variante ist, die Regierung hat davon nichts gewusst, unternimmt aber jetzt nichts, das abzustellen. Beides ist unverantwortlich.

Wird die Affäre die Freundschaft mit den Amerikanern nachhaltig belasten?

Steinbrück Die Angelegenheit belastet die Freundschaft bereits jetzt, diplomatisch und politisch. Zum Beispiel stellt sich mir die Frage, wie sich die Amerikaner den Beginn von Verhandlungen über ein transatlantisches Freihandelsabkommen vorstellen, wenn die Europäer davon ausgehen müssen, dass sie abgehört werden…

Rena Lehmann und Eva Quadbeck führten das Gespräch

(qua)
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