Entscheidung auf Leben und Tod Unsere Angst vor der Triage

Analyse | Düsseldorf · Corona sorgt für Knappheit auf den Intensivstationen. Das kann Ärzte zu tragischen Entscheidungen zwingen und berührt existenzielle Fragen von Gleichheit, Gerechtigkeit, Macht. Braucht es deswegen ein Gesetz?

 Auch um Triage zu vermeiden, werden schwerkranke Corona-Patienten derzeit nach Möglichkeit verlegt, um Kapazitäten auf den Intensivstationen zu schaffen.

Auch um Triage zu vermeiden, werden schwerkranke Corona-Patienten derzeit nach Möglichkeit verlegt, um Kapazitäten auf den Intensivstationen zu schaffen.

Foto: dpa/Fabian Strauch

Hinter den aktuellen Debatten über Infektionszahlen, Impfpflicht und die Wucht der vierten Welle taucht immer wieder ein schwarzer Horizont auf: die Möglichkeit, dass es verbreitet zur Triage kommen könnte, dass also Intensivmediziner wegen der Knappheit von Intensivbetten und Beatmungsgeräten gezwungen sein könnten, Entscheidungen über Leben und Tod treffen zu müssen. Oder konkreter: Dass sie darüber entscheiden müssen, wem geholfen wird und wem nicht.

Das ist natürlich eine Vorstellung mit maximalem Bedrohungspotenzial, weil es um die nackte Existenz geht. Und weil niemand in diese Lage geraten möchte, weder in die des Patienten noch die der Mediziner. Doch das ist es nicht allein. Die Triage ist auch darum der bedrohliche Horizont der Pandemie, weil diese Ausnahmesituation zentrale Werte des demokratischen Miteinanders berührt, Werte wie Gleichheit, Gerechtigkeit, Diskriminierungsverbot, die Unantastbarkeit des Körpers, die Verteilung von Macht.

Der Jurist Stefan Huster nennt das „normative Kollateralschäden“ einer Notlage, in der plötzlich eine Person zwischen Menschen mit unterschiedlichen Überlebenschancen auswählen muss. „In einer Gesellschaft von freien und gleichen Bürgern will man eine solche Wahl niemandem zumuten“, sagt der Professor für Verfassungs- und Gesundheitsrecht an der Ruhr-Universität Bochum. Genauso sträubten wir uns dagegen, einem gewissen Personenkreis so viel Macht zuzusprechen. Andere Existenzentscheidungen, etwa bei der Vergabe von Transplantationsorganen, würden in irgendeiner Zentrale abstrakt getroffen, und dann gehe ein Organ nach Frankfurt, das andere in eine andere Stadt. Die unmittelbare Auswahl zwischen Menschen sei das Bedrohliche am Szenario der Triage.

Auch die Lage nach einem katastrophalen Unfall mit vielen Schwerverletzten unterscheidet sich von der aktuellen Situation durch Corona. Denn nach einem Unfall müssen Notfallmediziner in einem kaum vorhersehbaren Szenario unter chaotischen Bedingungen akut entscheiden, wem zuerst geholfen werden soll. Bei Corona tritt die Knappheit vorhersehbar ein und führt nun zu einer breiten Debatte über die Kriterien einer eigentlich unzumutbaren Entscheidung. Statt um eine akute Ausnahmesituation geht es um eine gesellschaftliche Notlage, die viele betreffen könnte. Und auf einmal steht zum Beispiel die Frage im Raum, ob der Impfstatus bei einer Triage-Entscheidung eine Rolle spielen dürfte. Das rüttelt an Grundfesten, auch wenn die für Corona überarbeiteten Richtlinien zur Triage bisher ausschließen, dass der Impfstatus berücksichtigt werden darf. Schließlich spielt der Lebenswandel auch bei anderen Erkrankungen aus guten Gründen keine Rolle bei der Frage, welche medizinische Versorgung ein Mensch bekommt. „Auch der Lungenkrebs des Rauchers wird behandelt“, sagt Huster. Das koste die Allgemeinheit zwar Geld, gehe aber nicht auf Kosten des Lebens anderer. Bei Corona könnte der Fall daher anders liegen. Da kann es nämlich auf die Frage hinauslaufen, warum Menschen, die sich bewusst gegen eine Impfung entscheiden und damit eine schwere Erkrankung in Kauf nehmen, im akuten Mangelfall Vorrang bekommen sollten etwa vor einem geimpften Krebspatienten, der das Intensivbett genauso dringend benötigt. Auch Kriterien wie das Alter oder die Erfolgsaussichten der Behandlung werden gerade kontrovers diskutiert. Und auch dabei stoßen Argumente, die die Gleichheit von Menschen betonen auf solche, die mehr Gewicht auf die Effizienz der Verteilung knapper Ressourcen legen.

Bisher gibt es kein Gesetz, das die Triage regeln würde. Das Strafrecht setzt grobe Leitplanken, doch bleiben viele Fragen offen: etwa die nach der sogenannten Ex-post-Triage. Darf ein Arzt einen Menschen mit sehr schlechten Überlebenschancen von einem Beatmungsgerät nehmen, wenn ein anderer mit besseren Chancen es benötigt? Bisher ist das undenkbar, weil es bedeute würde, Leben zu bewerten und auf eine utilitaristische Maximierung von Menschenleben und Lebensjahren abzielte. Durch Corona werden diese Fragen aber neu diskutiert. Weil das  existenzielle Fragen berührt, spricht vieles dafür, dass darüber in einer Demokratie im Parlament entschieden werden sollte, dass es also Gesetze braucht, um Medizinern Handlungsrichtlinien und Rechtssicherheit zu geben.

„Auf der anderen Seite würde sich der Gesetzgeber in ein schwieriges Gelände begeben“, sagt Huster. Darauf hat auch der deutsche Ethikrat hingewiesen. „Sobald der Gesetzgeber positive Regeln aufstellt, gerät er in die Gefahr, bestimmtes Leben für überlebenswerter zu erklären als anderes. Das sollte der Gesetzgeber auf jeden Fall vermeiden“, sagt Huster. Eine Lösung wäre, ein Gesetz zu entwickeln, in dem negativ festgehalten wird, welche Entscheidungen aus ethischen Gründen abzulehnen sind. „Das hätte aber den Nachteil, dass man daraus schließen könnte, alles andere sei erlaubt“, so der Gesundheitsjurist.

Womöglich gehört zu den Zumutungen der Triage auf Intensivstationen, dass sie nicht bis ins Letzte geregelt werden kann. Dass die Allgemeinheit also gezwungen ist, ihrer Ärzteschaft zu vertrauen und Einzelfallabwägungen zuzulassen. Damit ist die Triage auch deswegen ein  Bedrohungsszenario, weil der Einzelne nicht genau wissen kann, wie im Notfall über ihn entschieden würde. Existenzielle Unsicherheit – Corona sorgt dafür auch auf ethischem Gebiet.

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