Marburger-Bund-Chefin zum Genesenenstatus „Glaube nicht, dass sich die 90-Tage-Regelung dauerhaft halten lässt“

Interview | Berlin · Die Präsidentin des größten deutschen Ärzteverbands Marburger Bund hält es nicht für haltbar, dass die Bundesregierung den Genesenenstatus bereits nach drei Monaten für beendet erklärt. Deutschland werde auf die EU-Regelung von sechs Monaten einschwenken müssen, sagt Susanne Johna.

 Susanne Johna ist Präsidentin des Marburger Bundes, der größten Ärzte-Organisation in Deutschland.

Susanne Johna ist Präsidentin des Marburger Bundes, der größten Ärzte-Organisation in Deutschland.

Foto: Marburger Bund - Bundesverband/LÄK Hessen

Frau Johna, einige Lungenfachärzte meinen, wir könnten die Omikron-Welle jetzt einfach laufen lassen. Gesundheitsminister Lauterbach meint dagegen, das gehe nicht, weil die Impflücke bei über 60-Jährigen zu groß sei. Was meinen Sie?

Johna Nein, das wäre jetzt in der immer noch aufsteigenden Phase der Welle zu früh. Der Scheitelpunkt ist noch nicht erreicht. Was wir jetzt auf den Normalstationen der Kliniken sehen, geht auf Infektionen zurück, die vor sieben bis zehn Tagen stattfanden. Wir sollten sorgsam die weitere Entwicklung beobachten und danach unsere Entscheidungen ausrichten. Ein Riesenproblem ist allerdings die unzulängliche Datengrundlage. Das muss dringend optimiert werden. Im Moment haben wir kein wirklich klares Bild der Gesamtlage.

Wann können wir in Deutschland in die endemische Lage übergehen? Dänemark, die Niederlande und andere Länder lockern ja bereits.

Johna Leider haben wir im Vergleich zu vielen anderen europäischen Ländern noch zu viele Nichtgeimpfte, auch in der Altersgruppe ab 60. Das kann uns auch bei Omikron Probleme machen. Hinzu kommt: Alle andere Erkrankungen machen keine Pause und müssen ebenso gut versorgt werden. Da hilft dem ohnehin schon ziemlich ausgelaugten Personal in Kliniken und Praxen jede Abschwächung oder Streckung der Omikron-Welle.

In der EU gilt der Genesenenstatus für sechs Monate, in Deutschland nur noch für drei Monate. Ist Deutschland zu vorsichtig?

Johna Ich glaube nicht, dass sich die 90-Tage-Regelung in Deutschland dauerhaft halten lässt. Die Mitgliedstaaten der EU haben ja erst vor wenigen Tagen die Gültigkeit des Genesenenstatus auf sechs Monate festgelegt. Zwar ist es prinzipiell richtig, dass die Anzahl der Antikörper bei den meisten Menschen etwa 90 Tage nach einer Infektion absinken. Das ist aber natürlich kein fester Stichtag und patientenindividuell sehr unterschiedlich. Es hängt auch davon ab, wie stark die Immunantwort auf die Infektion war. Insofern ist die europaweite Regelung durchaus vertretbar. Das sollte durch Alleingänge nicht in Zweifel gezogen werden.

Dass Deutschland derzeit über zu wenige PCR-Tests verfügt: Ist das eigentlich ein Skandal?

Johna Wir befinden uns hinsichtlich der Inzidenzen zunehmend im Blindflug, weil positive Antigentests ohne die Bestätigung durch einen PCR-Test nicht in die offizielle Statistik der Infektionen einfließen. Deshalb müssen wir uns in der Omikron-Welle andere Parameter genau anschauen, die Auskunft über die Belastung mit Covid-19 geben: Dazu gehören das Patientenaufkommen in den Arztpraxen, die rettungsdienstlichen Zuweisungen in die Krankenhäuser und die tatsächliche Belegung mit Covid-19-Patienten in den Kliniken, unterschieden nach Normal- und Intensivstation. Gleichzeitig sollte differenziert werden, ob die Patienten positiv mit dem Coronavirus getestet wurden, aber mit einem ganz anderen Krankheitsbild ins Krankenhaus gekommen sind, oder ob die Symptome mit einer Covid-19-Erkrankung vereinbar sind. Auch diese Daten liegen bundesweit leider nicht vor.

Wegen der Omikron-Welle drohen jetzt Fachkräfte-Engpässe in Kliniken und Praxen. Was können wir dagegen jetzt noch machen?

Johna Soweit es gelingt, die Inzidenzwelle abzumildern, wird auch die Belastung für das Personal in Kliniken und Praxen geringer. Einen Fachkräftemangel haben wir im Gesundheitswesen aber schon lange, ganz unabhängig von hohen Inzidenzen. Das ist für mich eines der zentralen Zukunftsthemen. Wir brauchen eine Ausbildungsoffensive in der Pflege und mehr Medizinstudienplätze, sonst wird sich das Problem weiter verschärfen und besonders in Krisensituationen zu Engpässen in der Versorgung führen.

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