Parlament in der Pandemie Corona hat das Herz der Demokratie angegriffen

Meinung · Der Bundestag hätte die Monate seit der ersten Welle gut nutzen können, um mögliche Eingriffe in Freiheitsrechte während der zweiten Welle abzuwägen und klare Vorgaben zu machen. Es ist eine verpasste Chance, die Bevölkerung mitzunehmen.

 Bundeskanzlerin Angela Merkel steht am Donnerstag kurz vor ihrer Regierungserklärung im Plenarsaal des Bundestages vor Unionsabgeordneten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel steht am Donnerstag kurz vor ihrer Regierungserklärung im Plenarsaal des Bundestages vor Unionsabgeordneten.

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Vor einem Monat war im Schnitt alle zwei Stunden ein Corona-Toter in Deutschland zu beklagen, vor einer Woche alle halbe Stunde, aktuell jede Viertelstunde. Diese bedrückende Entwicklung zeigt, dass es höchste Zeit ist zu handeln. Die Bundeskanzlerin hatte das vorhergesagt, als die Ministerpräsidenten ihr bei der Tiefe der Einschnitte noch nicht folgen wollten. Nun taten sie es. Und die Kanzlerin ist mit den Abläufen zufrieden: Ein in der Verfassung nicht vorgesehenes Gremium stellt Einstimmigkeit fest, die Landesregierungen gießen die Einzelpunkte in ihre Corona-Schutzverordnungen und die Kanzlerin erläutert alles hinterher dem Bundestag in einer Regierungserklärung. So weit, so falsch.

Natürlich hat die Debatte im Parlament dazu beigetragen, dass sich die verschiedenen Meinungen in der Bevölkerung bei den Entscheidern in Berlin vertreten fühlen. Das reichte vom gefühlskalt-destruktiven AfD-Fraktionschef Alexander Gauland bis zum emotional-konstruktiven Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus. Der eine sprach von „einer Art Kriegserklärung“ durch Merkel, der andere focht leidenschaftlich für die Wellenbrecher-Beschlüsse und bescheinigte sich selbst, dass das Parlament ausreichend beteiligt sei.

Das hörte sich beim Brinkhaus von Ende Mai noch anders an, als er mit seinem Amtskollegen Rolf Mützenich von der SPD, die Regelungskompetenzen, wo nötig, „ins Parlament zurückverlagern“ wollte. Und auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble wollte einen anderen Takt, als er vor gerade einmal zehn Tagen anmahnte, dem Eindruck entgegenzutreten, die Pandemiebekämpfung sei ausschließlich Sache von Regierungen und Gerichten. Dabei legte er eine lange Liste von Vorschlägen seiner Hausjuristen vor, wo überall der Bundestag durch engere Vorgaben ein Vorgehen erreicht, das landauf, landab einheitlicher und verständlicher ist.

Natürlich kann der Bundestag zwischen Mittwochabend und Donnerstagmorgen kein komplett neues Gesetzgebungsverfahren abwickeln. Aber er hätte die Zeit seit Mai besser nutzen können. Stattdessen ließ er der Regierung unter der Devise „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ freie Hand für alles und jedes bis Ende März 2021 unabhängig von der Entwicklung. Wie sich eine zweite Welle entwickeln könnte, war in all den Monaten völlig klar, und wie darauf zu reagieren ist, hätte intensiv in den Abwägungs- und Überzeugungsprozess parlamentarischer Bahnen gelenkt werden können. Das Parlament hätte die Bürger dabei mitgenommen, die hätten sich darauf einstellen können. Der Bundestag als Herz der Demokratie – es ist von Corona angegriffen, muss jetzt umso dringender als der eigentliche Gesetzgeber wieder im richtigen Rhythmus schlagen.

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