Interview mit Armutsexperte Die Gefahr sozialer Unruhen wächst

Remscheid · Professor Christoph Butterwegge ist Armutsexperte. Im Interview mit unserer Redaktion spricht er über Flüchtlinge, den gesellschaftlichen Frieden sowie Kino- und Restaurantbesuche.

 Professor Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln.

Professor Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln.

Foto: Wolfgang Schmidt

Professor Butterwegge, Sie beschäftigen sich nun schon fast ein ganzes Berufsleben lang mit dem Thema Armut. Was bedeutet dieser Begriff überhaupt? Was verstehen Sie darunter?

Butterwegge Man muss unterscheiden zwischen absoluter, existenzieller oder extremer Armut einerseits und relativer Armut andererseits. Absolut arm ist, wer seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann, sich tagtäglich Sorgen um Nahrung, Obdach und Sicherheit machen muss. Das bringen wir normalerweise mit der Dritten Welt in Verbindung, obwohl es auch in Deutschland solche Fälle gibt, etwa bei Obdachlosen.

Der Regelfall ist das aber nicht?

Butterwegge Nein. Bei der Bedürftigkeit in reichen Ländern sprechen wir in den meisten Fällen von relativer Armut. Armut in Köln sieht eben anders aus als Armut in Kalkutta.

Inwiefern?

Butterwegge Wenn wir in Deutschland davon sprechen, dass jemand arm ist, geht es meist darum, dass er gesellschaftlich nicht mithalten kann, sich also das nicht leisten kann, was für fast alle Bürger als normal gilt. Dass ihm zum Beispiel das Geld fehlt, um ins Restaurant, ins Kino oder ins Theater zu gehen. Und dass er an üblichen gesellschaftlichen Ereignissen nicht teilhaben kann. Bei der relativen Armut werden die Grundbedürfnisse des Menschen befriedigt, was hierzulande überwiegend der Fall ist. Wobei ich einschränkend dazu sagen will: Durch die Fluchtmigration begegnet uns jetzt vermehrt auch Dritte-Welt-Elend vor der eigenen Haustür. Die Menschen, die jetzt zu uns kommen, haben ja häufig nicht viel mehr als das, was sie am Leibe tragen.

Welche Auswirkungen hat das auf das Leben in Deutschland?

Butterwegge Wenn der Sozialstaat nicht dafür sorgt, dass die Flüchtlinge inkludiert werden - also mit den gleichen Rechten, aber auch den gleichen Zugängen zu materiellen Ressourcen einbezogen werden in unsere Gesellschaft -, kann sich Dritte-Welt-Armut in deutschen Großstädten verfestigen und besteht die Gefahr einer dauerhaften ethnischen Unterschichtung der Gesellschaft.

Sind unsere Sozialsysteme überhaupt dazu in der Lage, den höheren Bedarf abzufangen?

Butterwegge Nun, wir sprechen ja von Armut in einem reichen Land. Ich sehe die Bundesrepublik von ihren finanziellen und strukturellen Möglichkeiten her schon dazu in der Lage, die Menschen aufzunehmen, unterzubringen und zu verpflegen. Übrigens auch sie umfassend zu integrieren, das heißt denen, die zu uns kommen, Bildung, Ausbildung und hinterher einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen. Das ist weniger eine Frage des Könnens als des politischen und gesellschaftlichen Willens.

Was meinen Sie damit?

Butterwegge Ich sehe insbesondere jene Menschen in der Pflicht, die über beträchtliche finanzielle Mittel verfügen. Die profitieren nämlich auch vom Flüchtlingszuzug.

Tatsächlich?

Butterwegge Gewiss. Etwa durch hunderttausende Arbeitskräfte, die zusätzlich zur Verfügung stehen und für Unternehmen bessere Produktionsbedingungen schaffen. Flüchtlinge kaufen auch vermehrt die von deutschen Unternehmen hergestellten Produkte. Sie kurbeln die Binnenkonjunktur an und verbessern damit die Möglichkeit für Unternehmer, Gewinne zu machen.

Was erwarten sie in diesem Zusammenhang von Unternehmern und Politik?

Butterwegge Wenn man jetzt nichts tut, um die Zugewanderten zu inkludieren und dafür zu sorgen, dass sie hier menschenwürdig leben können, dann wächst die Gefahr von Gewalttätigkeiten und sozialer Unruhe. Wir brauchen höhere Steuern. Ich denke da jetzt nicht an einen Flüchtlingssoli oder an eine Mineralölsteuer-Erhöhung, wie sie Wolfgang Schäuble vorgeschlagen hat, weil sie vor allem die Geringverdiener treffen würden, sondern an Steuern, die Menschen treffen - zu denen kann ich auch gehören -, die sich das leisten können. Da finde ich das Merkel-Dogma "Keine Steuererhöhung, egal für wen" und die "Schwarze Null" von Wolfgang Schäuble einfach fehl am Platz. Es muss jetzt darum gehen, die bereits vorhandenen und durch die Flüchtlinge vermehrten sozialen Notlagen zu beheben. Die etablierten Parteien beschäftigen sich fast nur mit den Problemen, die Flüchtlinge machen, und viel zu selten mit den Problemen, die sie haben.

Glauben sie, dass der gesellschaftliche Friede in Kommunen wie Remscheid oder den Ruhrgebietsstädten, in denen besonders hoher Sozialdruck herrscht, auch besonders gefährdet ist?

Butterwegge Ja, denn grundsätzlich gilt: Wenn eine Gesellschaft stärker von Armut betroffen ist - und das gilt sowohl für absolute wie auch für relative Armut - wird das gesellschaftliche Klima inhumaner, unfriedlicher und unsozialer. Einheimische, die in relativer Armut leben, fühlen sich schon jetzt durch die Flüchtlinge bedroht. Deshalb ist es so wichtig, dass die Armen nicht gegen die noch Ärmeren ausgespielt werden. Deutsche, die vorher auch schon kaum über die Runden kamen, dürfen nicht zusätzlich finanziell belastet werden, damit AfD und Pegida keine Massenbewegungen werden.

Die Verantwortung für die Steuerpolitik liegt in Berlin. Und die Hauptstadt ist für viele Kommunen, die sich dem Flüchtlingsproblem stellen müssen, weit weg. Was also können Städte wie Remscheid, Duisburg oder Oberhausen, die in einer prekären Haushaltssituation stecken, denn tun, um die Lage zu entspannen?

Butterwegge Sie können wenig tun, weil ihre finanziellen Möglichkeiten begrenzt sind. Und wenn eine Stadt unter Haushaltsnotrecht steht, ist sie praktisch handlungsunfähig. Umso mehr ist sie auf richtige Berliner Entscheidungen angewiesen - etwa im Hinblick auf den sozialen Wohnungsbau, die Bildungs-, Gesundheits- und Beschäftigungspolitik.

(RP)
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