Politisches Buch 1949 – das lange deutsche Jahr

Der Journalist Bommarius zeichnet den mühsamen und bitteren Aufbruch zur zweiten deutschen Demokratie nach.

 Berliner verfolgen im Mai 1949 die Landung einer US-Militärmaschine auf dem Flughafen Tempelhof während der Luftblockade durch die Sowjets.

Berliner verfolgen im Mai 1949 die Landung einer US-Militärmaschine auf dem Flughafen Tempelhof während der Luftblockade durch die Sowjets.

Foto: picture-alliance / akg-images/akg-images

Der 14-Jährige boykottiert den Unterricht. Sein Lehrer hat die Bombardierung Hamburgs durch die Alliierten als „beispiellose Barbarei“ bezeichnet. Die barbarischen Morde in deutschen Konzentrationslagern machen für ihn da keinen Unterschied. Thomas, der das KZ Auschwitz im Gegensatz zu seinem Vater überlebt hat, träumt sich nach Amerika. Mitschüler attestieren ihm, dass er gar nicht aussehe wie ein Jude. Für seine Leiden interessieren sie sich nicht.

Das ist im Juli 1948. Mit jenem Monat beginnt das so fesselnde wie aufwühlende Buch von Christian Bommarius „1949 – Das lange deutsche Jahr“. Die Zeit der doppelten Staatsgründung in einem geteilten Land mit dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland auf der einen und der Verfassung für die Deutsche Demokratische Republik auf der anderen Seite. Mit Entbehrung, Hunger, Wiederaufbau, Luftbrücke, Entnazifizierung, Feigheit, Lüge – und der langsamen Errichtung der Demokratie im Westteil des Landes. Aber zu Demokraten wurde ein Großteil der Deutschen noch lange nicht.

Das ist die beklemmende Analyse von Bommarius, der auf 300 Seiten Menschen von damals durch Bücher, Tagebücher, Schriften, Zeitungsartikel oder Gerichtsprotokolle zu Wort kommen lässt. Neben Weltberühmten wie Thomas Mann, Fritz Bauer, Gottfried Benn, Bertolt Brecht, Hannah Ahrendt, Carlo Schmid werden Unbekannte gehört. Vergessen kann man sie nach diesem Buch nicht mehr.

Da ist der Feuilletonist Werner Höfer, der im 1943 die Ermordung des hochbegabten Pianisten Karlrobert Kreiten bejubelt hatte, weil dieser Zweifel am Endsieg äußerte. Seit 1947 ist er leitender Redakteur beim Nordwestdeutschen Rundfunk. Oder Wolfgang Zeller, der im März 1949 schon längst wieder im Geschäft ist, nachdem er zu Hitlers Zeiten die Musik zu dem widerwärtigen antisemitischen Film „Jud Süß“ beigesteuert hatte. Da sind Männer, die für Erschießungen von Juden in der Pogromnacht 1938 nur zu Totschlag verurteilt (und bald wieder aus dem Gefängnis entlassen) werden, weil ihnen keine Mordabsicht, sondern nur Befehlsausführung angekreidet wird. Da ist der Alltag mit latentem Antisemitismus, konservierter Nazi-Sprache und Unverständnis für Demokratie.

Christian Bommarius (60) ist ein preisgekrönter Journalist und Autor – zuletzt wurde ihm der Heinrich-Mann-Preis für Essayistik verliehen –, der die in vielfacher Hinsicht so bittere deutsche Nachkriegsgeschichte durch eine Mischung von Originalzeugnissen und Einordnung der politischen Stationen zum Grundgesetz und seiner Bedeutung für die Zukunft der Bundesrepublik beeindruckend nachzeichnet. Aufwändig recherchiert, brillant geschrieben. Er macht das auch mit dem ihm eigenen Sarkasmus für Unerträgliches. Etwa wenn er Karl Schwesig als „Spezialisten für Folter“ bezeichnet, „der seine Erfahrungen in diversen Konzentrationslagern erworben hat“ – als Opfer. Aus dem 14-jährigen Juden Thomas ist übrigens der Professor für Völkerrecht geworden. Thomas Buergenthal verließ Deutschland 1951 und studierte in den USA. Von 2000 bis 2010 war er Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag.

  Christian Bommarius: 1949. Das lange deutsche Jahr. 2018, Rowohlt, 288 S., 14, 19,90 Euro

Christian Bommarius: 1949. Das lange deutsche Jahr. 2018, Rowohlt, 288 S., 14, 19,90 Euro

Foto: Droemer

Das Buch ist Geschichtsunterricht erster Güte und zugleich eine aktuelle Mahnung für die Zukunft, geschrieben von einem Mann, der sich Zeit seines Lebens mit dem Gift des Nationalsozialismus und dem Wert der Demokratie beschäftigt hat.

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