20 Jahre Mauerfall Chemnitz baut die Platte um

(RP). Das "sächsische Manchester" ist immer noch Sachsens drittgrößte Stadt, auch wenn die Einwohnerzahl sinkt. Allein aus dem Wohngebiet Fritz Heckert, der zweitgrößten DDR-Plattenbausiedlung, zog die Hälfte weg. Mit den Bürgern verschwanden auch immer mehr Hochhäuser aus der Siedlung, in der Fußballstar Michael Ballack aufgewachsen ist.

Chemnitz hat einiges zu bieten: Kindergärten, Schulen, Kinos und sogar den früheren Probensaal der städtischen Bühnen im Marmorpalast — alles gegen Gebot zu haben. Ausverkauf als Reaktion auf die seit der Wende ständig sinkende Bevölkerungszahl.

Mehr als 60 000 Karl-Marx-Städter verließen Chemnitz, seit es 1990 seinen alten Namen zurückbekam. Die einstige Hochburg im Maschinenbau hat ihre Anziehungskraft vor allem für junge Leute verloren — gerade mal ein Drittel der Einwohner ist unter 30. Für Sandro Schmalfuß ist die Entwicklung nicht bloß wirtschaftlich begründet, sondern hausgemacht.

"Die Stadt bringt sich mit ihrer Wohnungspolitik selbst um ihre Zukunft", fürchtet der Büroleiter, der sich für Denkmalschutz stark macht. "Junge Leute wollen nicht in gesichtslosen Plattenbauten leben, sondern im sanierten Altbau." Und davon könnte es einige mehr geben in Chemnitz, auch wenn die DDR die alten Gründerzeit- und Jugendstilbauten verrotten ließ, als Plattenbau modern und für Sanierung kein Geld da war. Doch die städtische Tochtergesellschaft, der viele dieser Häuser gehören, "bietet sie zu völligen Fantasiepreisen" an, meint Schmalfuß: "Und dann gibt es für die unverkäuflichen Baudenkmäler früher oder später die Abrissgenehmigung."

Rund 200 Altbauten soll die Grundstücks- und Gebäudewirtschafts-Gesellschaft GGG so schon mit staatlicher Rückbauprämie und Altschuldenhilfe von zusammen knapp 130 Euro pro Quadratmeter abgerissen haben. "Solange das Abrissgeschäft lukrativer ist als der Denkmalschutz", sagt Schmalfuß, sei es um die Chemnitzer City, deren Wahrzeichen noch immer der sieben Meter hohe Karl-Marx-Kopf (sächsisch: Nischel) ist, schlecht bestellt. Für Lärmschutzwände, die die Altbau-Lücken zumindest verdecken sollten, wurde die beantragte Dreiviertelmillion aus dem Konjunkturpaket II unlängst abgelehnt. Das Projekt wurde gestoppt.

"Vorerst", unkt FDP-Mann Schmalfuß, dem viele Chemnitzer für sein Engagement zwar auf die Schulter klopfen, ihn aber im Juni nicht in den Stadtrat wählten. Dort ist die Linke stärkste Partei geworden, die unlängst "ein klares Bekenntnis zum Heckert-Gebiet" gefordert hat.

Dort, im einst zweitgrößten Plattenbauviertel der DDR nach Berlin-Marzahn, werben Immobilienmakler für die "schärfsten Wohnungen der Stadt". Das Fritz-Heckert-Gebiet punktet mit Warmmieten von 650 Euro für 115 vollsanierte Quadratmeter und mit der "dörflichen" Lage. Tatsächlich begann die Geschichte des 7,5 Quadratkilometer großen Heckert 1974 in den Bauerndörfern, die heute wieder Helbers- und Markersdorf heißen, nachdem der Name des KPD-Mitbegründers aus dem Chemnitzer Stadtplan verschwunden ist. Die fünf bis elf Stockwerke hohen Plattentürme wurden damals einfach um die Dörfer herum gebaut. 90 000 Menschen lebten hier, als die Mauer fiel. Mehr als die Hälfte ist inzwischen weg.

Für die Laskes hat das Wort Plattenbau keinen negativen Klang. "Es war doch nur eine Bauweise, keine Ideologie", sagt Heinz Laske, der vor 33 Jahren als einer der ersten ins Heckert-Gebiet zog. "Hochhäuser gibt es doch überall." In den 70ern war das Heckert Vorzeigeobjekt des DDR-Wohnungsbaus. Die Werbebroschüre gab es sogar auf Englisch — "wir waren ja nicht nur nach Russland orientiert", sagt Laske, der sich erinnert, wie damals beim schnellen Bau gegen die katastrophale Wohnungsnot das Plansoll überschritten wurde: "Man sparte in jedem Baugebiet so viel Material ein, dass damit dann ein zusätzlicher Block errichtet werden konnte."

Jedes der acht Wohngebiete bekam ein eigenes Versorgungszentrum mit Kindergarten und Schule, einer Wohngebietsgaststätte, die auch der Schulspeisung diente, und einer Kaufhalle. Laskes sind im Gebiet Eins zuhause, in der Zwei-Zimmer-Wohnung, in der sie ihre Töchter groß gezogen haben.

"Wir waren glücklich, dass wir die Wohnung bekamen", sagt Grundschullehrerin Bärbel und erinnert sich an vorher. Da wohnten sie, gerade Eltern geworden, in anderthalb ofenbeheizten Zimmern in einem Altbau in der City, das Klo auf halber Treppe. Bei 19 Mark Miete war seitens des Hausbesitzers an Sanierung nicht zu denken. Der staatlich verordnete günstige Wohnraum, sagt Laske heute, war "eine ehrenwerte Idee, aber auch der Totengräber der alten Bausubstanz". Im fernbeheizten Heckert hatte die Kohlenschlepperei ein Ende, und ein Badezimmer gab es auch.

"Uns hat es immer hier gefallen", sagt Bärbel Laske — und nach der Wende sind sie deshalb da geblieben. Auch weil sie, wie viele ihrer Nachbarn, vor den Toren der Stadt einen Kleingarten mit Laube haben, eine Datsche, wie das auf Ostdeutsch heißt. Da verbrachten sie schon früher viel Freizeit und tun es immer noch. Obwohl es im Heckert-Gebiet auch schon eine Menge Grün gibt, seit etliche Wohnblöcke abgerissen worden sind.

"Minutenlange Häuser" beschreibt ein Chemnitzer mit poetischem Sarkasmus die massigen Elfgeschosser, die einst das Heckert-Gebiet prägten. Fünf davon säumten die Johann-Richter-Straße, Platz für ein kleines Dorf in dem zusammenhängenden Block, den sie "Stadtmauer" nannten. Erst Mitte der 90er Jahre ist sie saniert worden, erzählt Heinz Laske. Inzwischen hat man vier der für rund 13 Millionen Euro aufgehübschten Kolosse mangels Nachfrage weggerissen.

Beim Stadtumbau wird im Heckert-Gebiet aber nicht nur die Abrissbirne eingesetzt. Viel architektonische Kreativität wird hier sichtbar: Da wurden aus hohen Wohnblocks dreistöckige Reihenhäuser mit Giebeldächern und kleinen Mietergärten. Die massiven Betonzeilen hat man in unterschiedlichen Höhen aufgebrochen, Balkone und Aufzugsschächte angesetzt, mit viel Farbe und Materialmix die Fassaden so freundlich gestaltet, dass die "Platte" kaum zu ahnen ist.

Das Versorgungszentrum dagegen ist mit Graffiti beschmiert, die Scheiben vom Supermarkt, der im November aufgab, sind eingeworfen, die Gaststätte ist lange zu. Nur der Friseur und ein Reisebüro behaupten die Stellung. Cotoneaster wuchert aus einem vergessenen Hochbeet über die Treppe. "Die Natur holt sich alles zurück", kommentiert Heinz Laske lakonisch.

Auch im Stadtteilzentrum, das erst 1999 eröffnet wurde, schließen immer mehr der Handelsketten, weil die Kunden ausbleiben. Bloß die Verkehrsbetriebe setzen augenscheinlich noch aufs Heckert: 2004 ging die Straßenbahntrasse ins Netz, die in der DDR zwar geplant, aber nie bezahlbar war.

An der Dr.-Salvador-Allende-Straße wächst heute viel grüner Rasen. Als Michael Ballack dort aufwuchs, standen hier die Wohnblocks noch dicht an dicht. Der Kapitän der Fußball-Nationalelf, der damals zum "KM-Städter" Sport-gymnasium ging, musste seine Trainingseinheiten auf dem Platz von "Motor Fritz Heckert Karl-Marx-Stadt" absolvieren.

Der heißt heute Chemnitzer Wohngebietssportverein und hat mit Ballack nichts am Hut. Fußball spielt keine große Rolle, sagt Präsident Lothar Franke: "Unser Thema ist American Football." Die Chemnitz Crusaders spielen in der Regionalliga Ost, Freizeitsportler im Heckert-Gebiet trainieren heute Tai-Chi und Karate. Stolz ist Franke, selbst ein Kind des Stadtteils und seit der Wende Vereinsvorstand, vor allem auf den Beachvolleyball-Platz. Der ist so attraktiv, dass er mit ein Grund dafür sein dürfte, dass der Verein seit der Wende nur rund 300 Mitglieder verloren hat.

Geblieben ist das Café Lehmann. Seit 120 Jahren steht das Haus an der Markersdorfer Straße, einst als Kohlenhandlung, seit 1988 als Gaststätte mit einer Galerie. Das Engagement seiner kirchlich engagierten Besitzer hatte das DDR-System damals misstrauisch beäugt. Lehmanns und ihr Café haben es überlebt.

BISHER ERSCHIENEN 25. bis 31. Juli: Das Jahr des Mauerfalls — Wegmarken der Geschichte DIE STATIONEN UNSERER REISE 1. August: Gießen 3. August: Philippsthal Heute: Chemnitz 5. August: Bautzen 6. August: Hoyerswerda 7. August: Lichterfeld 8. August: Hohenschönhausen ALLE FOLGEN der Serie im Internet unter www.rp-online.de/politik

(RP)
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