Carsten Linnemann im Interview "Wir reagieren nur, anstatt Visionen zu entwickeln"

Berlin · Der Vorsitzende der Mittelstandsvereinigung der Union, Carsten Linnemann, plädiert im Interview für eine Steuerentlastung von mehr als 20 Milliarden Euro. Zugleich soll die Arbeitnehmerpauschale von derzeit 1000 auf 2000 Euro steigen.

Carsten Linnemann sprach im Interview mit unserer Redaktion auch über die verlängerten Sanktionen gegen Russland.

Carsten Linnemann sprach im Interview mit unserer Redaktion auch über die verlängerten Sanktionen gegen Russland.

Foto: Carsten Linnemann

Seit drei Jahren regieren CDU und SPD in Berlin gemeinsam. Können Sie uns ein Gesetz aus dieser Zeit nennen, das Wachstum in Deutschland gefördert hat?

Linnemann (langes Schweigen) Ich zögere, weil in zehn Jahren von dieser großen Koalition vor allem die "Politik der schwarzen Null" und nicht ein einzelnes Gesetz hängen bleiben wird. Früher wurde alles auf Pump finanziert. Jetzt steht die schwarze Null. Das ist auch psychologisch wichtig. Erstmals sagt die Bundespolitik: Wir kommen mit dem Geld aus, das wir haben. Wenn Sie von mir konkrete Gesetze hören wollen, würde ich als Vorsitzender der Mittelstandsvereinigung den Abbau der kalten Progression und die Flexi-Rente nennen.

… aber die "schwarze Null" geht zulasten der Länder, die Sie auf den Flüchtlingskosten sitzen lassen.

Linnemann … das kann ich so nicht bestätigen, schließlich haben ja die Länder dem jüngsten Kompromiss zugestimmt. Wir brauchen aber eine Anreizkultur, die alle politischen Ebenen zu ökonomisch sinnvollem Handeln motiviert. Das Thema Subsidiarität und Eigenverantwortung wurde in den letzten Jahren immer weiter zurückgedrängt. Warum können wir nicht zum Beispiel über eine Kommunalsteuer nachdenken, die die Kommunen selbst erheben und verwenden können?

Sie fordern eine zusätzliche Steuer?

Linnemann Nein. Schon heute bekommen die Kommunen einen Teil der Einkommensteuer ihrer Bürger. Das weiß aber niemand. Besser wäre, die Kommune besteuert selbst über Zu- oder Abschläge, sodass etwa ein Bürgermeister sagen kann: Wir bauen hier ein neues Schwimmbad, aber dafür müsst Ihr ein Prozent mehr Einkommensteuer bezahlen. Dann gibt es ein Mehr an Transparenz, an Wettbewerb unter den Kommunen und an Wahlbeteiligung.

Ist das ein Element Ihres Wahlprogramms 2017?

Linnemann Ich hoffe, dass wir da auch wieder über so große Strukturreformen nachdenken werden. Wenn ich mir die Große Koalition der vergangenen drei Jahre ansehe, stelle ich fest, dass auch meine Partei das ein wenig verlernt hat. Erst kam Fukushima, dann die Eurokrise, dann die Flüchtlinge, dann der Brexit — wir reagieren nur, anstatt Visionen zu entwickeln. Deshalb fordern wir als Mittelstandsvereinigung der Union zum Beispiel eine Einkommensteuerstrukturreform.

Einen Vorschlag dafür wollten Sie ja noch vor der Sommerpause vorlegen. Wann fängt denn die Sommerpause bei Ihnen an?

Linnemann Wir haben den Vorschlag für Ende Juli angekündigt. Nur zwei Punkte vorweg: Der Mittelstandsbauch muss nennenswert abgeflacht werden, also der besonders starke Anstieg der Steuersätze bei den mittleren Einkommen. Und der Spitzensteuersatz muss deutlich später greifen.

Was wird das kosten?

Linnemann Wir reden da natürlich über einen zweistelligen Milliardenbetrag. Dank der stark steigenden Steuereinnahmen des Staates, sehen viele Ökonomen ein Entlastungspotenzial von weit mehr als 20 Milliarden Euro. Der Spielraum ist also da.

Sie teilen ja die Analyse des Fifo-Instituts, wonach in Deutschland 100 Subventionen im Gesamtwert von 18 Milliarden Euro sofort abgeschafft werden könnten. Nennen Sie bitte fünf Beispiele.

Linnemann Sie können theoretisch alle sofort abschaffen, indem man im Gegenzug die Steuersätze so stark senkt, dass es so gut wie keine Verlierer gibt. Das macht aber kein Finanzminister mit, also bleibt nur die Rasenmäher-Methode.

Also wollen Sie auch die Pendlerpauschale kürzen?

Linnemann Hier fände ich es besser, wenn wir die Werbungskostenpauschale von 1000 Euro auf 2000 erhöhen. Bis zu diesem Betrag müssen dann keine Ausgaben nachgewiesen werden. Viele Steuerzahler quälen sich jedes Jahr damit herum. Wird der Freibetrag auf 2000 Euro erhöht, würden sich 70 Prozent der Menschen in Deutschland nicht mehr mit Bürokratie rumschlagen müssen. Und für die wäre dann faktisch die Pendlerpauschale obsolet.

Das ist eine Vereinfachung. Aber damit haben Sie noch keine Subvention abgebaut.

Linnemann Das stimmt. Im Einkommenssteuerrecht ist es leider auch fast unmöglich. Woanders habe ich mehr Hoffnung. Nehmen Sie das Beispiel Mehrwertsteuer: Das System versteht kein Mensch mehr. Warum werden Fruchtsäfte höher besteuert als Smoothies? Wir sind für die Abschaffung der vergünstigten Mehrwertsteuersätze und im Gegenzug für eine Absenkung der Mehrwertsteuer auf 16 Prozent.

Warum nicht eine Absenkung auf zehn Prozent?

Linnemann Das wäre nicht seriös finanzierbar.

Wer prügelt diese Vorschläge jetzt in das CDU Wahlkampfprogramm?

Linnemann Die Mittelstandsvereinigung hat beim Beispiel kalte Progression gezeigt, dass sie in der Lage ist, sich durchzusetzen.

Werden Sie auch die Rücknahme von Renten-Gesetzen der Großen Koalition fordern?

Linnemann Auch wenn ich die Rente mit 63 für falsch halte, sehe ich leider keine realistische Möglichkeit, sie wieder zurückzudrehen. Deshalb konzentriere ich mich auf positive Gegensignale wie die Flexirente.

Sollen die Selbstständigen auch zwangsweise in die Gesetzliche Rentenversicherung einzahlen müssen?

Linnemann Nein, aber sie sollten eine Altersversorgung nachweisen. Dabei soll die Form jedem selbst überlassen sein, egal ob Lebensversicherung, Immobilie oder gesetzliche Rente. Jeder muss nachweisen, dass er am Ende seines Arbeitslebens nicht dem Staat auf der Tasche liegt. Man sollte aber eine Karenzzeit von mindestens drei Jahren einbauen, um Gründer nicht unnötig zu belasten.

Ihre Parteifreunde Peter Weiß und Eva Welskop-Deffaa fordern laut Handelsblatt vom 8. Juni aber die Zwangsmitgliedschaft von Selbstständigen in der Gesetzlichen Rentenversicherung, sofern sie nicht über ein berufsständisches Versorgungswerk abgesichert sind …

Linnemann Das ist nicht meine Position, übrigens auch nicht die der CDU.

Der Mindestlohn soll von 8,50 auf 8,84 Euro erhöht werden. Wieviel Arbeitsplätze kostet das?

Linnemann Wir haben ein Mindestlohngesetz verabschiedet, wo eine unabhängige Kommission den Lohn findet. Das kommentiere ich nicht.

Wir fragen ja auch nicht nach Ihrem Kommentar zum neuen Mindestlohn, sondern nach dessen Auswirkungen.

Linnemann Ich gehe davon aus, dass die Tarifpartner in der Kommission das verantwortungsvoll gemacht haben.

Die Sanktionen gegen Russland belasten die deutsche Wirtschaft zunehmend. War es richtig, sie zu verlängern?

Linnemann Ja. Völkerrechtliche Interessen sind wichtiger als Wirtschaftsinteressen.

War die gesamte Politik Merkels unter dem Strich wirtschaftsfreundlich?

Linnemann Es geht nicht um Wirtschaftsfreundlichkeit, sondern eher um "Zukunftsfreundlichkeit". Und hier ist es der gesamten Großen Koalition nicht gelungen, den Menschen wieder eine Vision zu geben. 2005 haben zwei Drittel der Eltern in einer Umfrage gesagt, dass es ihren Kindern mal besser gehen werde. Heute, gut zehn Jahre später, sagen zwei Drittel der Eltern, meinen Kindern wird es mal schlechter gehen. Diese Unsicherheit muss die Politik den Menschen nehmen.

Hat Merkel den Wirtschaftsflügel in ihrer Amtszeit gestutzt?

Linnemann In einer Großen Koalition hat es der Wirtschaftsflügel immer schwer. Aber klar ist auch: Ludwig Erhard hätte niemals eine Kaufprämie für Elektroautos mitgemacht.

Michael Bröcker, Martin Kessler und Thomas Reisener führten das Gespräch.

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