Caritas-Präsidentin Eva Welskop-Deffaa „Kirchen sollten Gebäude für Obdachlose freigeben“

Interview | Düsseldorf · Die Caritas-Präsidentin Eva Welskop-Deffaa sieht Armut in Deutschland als schweres Problem, das gerne unterschätzt und missachtet wird. Auch der neuen Ampel-Koalition, die Obdachlosigkeit bis 2030 abschaffen will, fehle ein schlüssiges Programm.

Frau Welskop-Deffaa, Sie haben sich kürzlich gegen eine allgemeine Impfpflicht zum jetzigen Zeitpunkt ausgesprochen. Was schlagen Sie stattdessen vor?

Welskop-Deffaa Die Steigerung der Impfquote national und international ist schon der Schlüssel zur Überwindung der Pandemie, zentral dafür sind drei Aspekte: Die Weiterentwicklung des jeweils passenden Impfstoffes, die Förderung einer ausreichenden Produktion sowie die Steigerung der tatsächlichen Impfbereitschaft.

Wie wollen Sie das erreichen ohne Impfpflicht?

Welskop-Deffaa Unsere Anstrengungen gehen dahin, positiv auf die Menschen zuzugehen, sei es durch neue Videobotschaften, Informationen in leichter Sprache, Einsatz von Impfmobilen oder Impf-Aktionen in Kirchen – wir müssen nah dran bleiben und Ängste ernstnehmen. Es nutzt nichts, die Leute zu beschimpfen, die jetzt noch zögern und zaudern.

Was halten Sie von verpflichtenden Aufklärungsgesprächen zur Impfung, so wie es die Psychologin und Autorin der Cosmo-Studie zur Impfbereitschaft, Cornelia Betsch, vorschlägt?

Welskop-Deffaa Das finde ich eine super Idee, die ich mitnehmen werde, als Ergänzung oder Alternative zur allgemeinen Impfpflicht. Für die braucht es eine rechtssichere, präzise Begründung. Die scheint mir zum gegenwärtigen Zeitpunkt angesichts der Omikron-Faktenlage schwierig.

Sind bereits Kündigungen absehbar mit Blick auf die einrichtungsbezogene Impfpflicht, die ab Mitte März gilt?

Welskop-Deffaa Bisher nicht. Sollten Mitarbeitende im März noch ungeimpft sein, wird das Gesundheitsamt für sie ein Betretungsverbot aussprechen und der Gehaltsanspruch entfällt. Wir tun im Moment alles, um unserer Fürsorge-Pflicht entsprechend gemeinsam mit den Mitarbeitenden Perspektiven zu entwickeln.

Auch ohne Corona klafft eine große Lücke in der Pflege, es gibt zu wenig Pflegekräfte für immer mehr Pflegebedürftige. Wie wollen Sie da gegensteuern?

Welskop-Deffaa Einen Punkt möchte ich hervorheben, ein Herzensthema von mir: Es braucht endlich faire Rahmenbedingungen für die bis zu 500.000 ausländischen „Live in“-Assistenzkräfte. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts, wonach Betreuungskräfte, die Pflegebedürftige in deren Wohnung versorgen, Anspruch auf den Mindestlohn für die geleisteten Stunden haben, war klarstellend, reicht aber nicht aus. Die Bedingungen für diese Form der Betreuung über die Pflegeversicherung fair abzusichern, sehe ich als zentrale Aufgabe der neuen Regierung. Im Koalitionsvertrag ist lediglich die Rede von „rechtssicheren Bedingungen“, das ist enttäuschend.

Deutschland hat einen ausgebauten Sozialstaat auf allen Ebenen. Gibt es hierzulande richtige Armut?

Welskop-Deffaa Über die Definition von Armut lässt sich lange streiten. Das führt in der Praxis nicht weiter. Es ist aber offensichtlich, dass es in Deutschland Armut gibt, die schmerzt. Und die dürfen wir nicht akzeptieren. Wer seine Wohnung wegen Krankheit oder Scheidung verliert, ist ab diesem Zeitpunkt massiv von einer dauerhaften Armut bedroht. Da beginnt der Teufelskreis der Armut. Sie können kein Konto mehr eröffnen, Ihre Unterlagen nicht verwahren, sich schlecht gegen Krankheiten schützen. Diese Teufelskreise, diese Verstetigung der Armut, das treibt uns als Caritasverband besonders um.

Es gibt so viele Stellen, die sich um solche Menschen kümmern – die kirchlichen und freigemeinnützigen Wohlfahrtsverbände, private und konfessionelle Initiativen, die Sozialämter der Kommunen. Warum ist das weiterhin ein so großes Problem?

Welskop-Deffaa Die Bereitschaft zu helfen ist groß, auch als Caritas können wir den Menschen Essen, Duschplätze, Notunterkünfte anbieten. Viel öfter müsste aber passender Wohnraum zur Verfügung stehen, damit ein wirklicher Neuanfang gelingt. Um die Obdachlosigkeit bis 2030 zu überwinden, wie es der Koalitionsvertrag festhält, fehlen bislang die geeigneten Immobilien.

Es gibt viele öffentlichen Gebäude oder auch kirchliche Räume, die leer stehen.

Welskop-Deffaa Das ist ein Ansatz, für Wohnungen, aber auch für Orte der Begegnung. In Städten wie Seattle oder Oslo können Obdachlose in Bibliotheken Schach spielen, wo gleichzeitig Kinder ihre Hausaufgaben machen. Die Förderung von Bibliotheken als offene Orte steht ebenfalls im Koalitionsvertrag. Das gibt Hoffnung auf einen Paradigmenwechsel. Auch Kirchen sollten Gebäude, die sie nicht mehr nutzen, für Obdachlose freigeben. In Frankfurt etwa leben Suchtkranke in einem ehemaligen Pfarrhaus. Ähnliche Beispiele gibt es auch in anderen Städten.

Armut ist aber nicht nur Obdachlosigkeit. Wo fängt bei Ihnen Armut an?

Welskop-Deffaa Armut hat viele Gesichter. Es muss darum gehen, Armutsrisiken früh wahrzunehmen und vorzubeugen, dass sich einzelne Schicksalsschläge nicht zu Abwärtsspiralen verfestigter Armut entwickeln. Schlechte Gesundheit, familiäre Krisen oder eine Überschuldung können eine solche Spirale auslösen. Ein Schlag zieht weitere Schläge nach sich. Wir müssen den Menschen rechtzeitig wieder eine Perspektive geben.

Tut das die neue Bundesregierung ausreichend?

Welskop-Deffaa Es gibt einige gute Ansätze. So möchte die Ampel-Koalition in den Job-Centern die gesundheitliche Prävention stärken. Das ist gut. Weniger gut ist, dass die Koalitionäre die Einzelmaßnahmen kaum verknüpfen. Wir benötigen aber ein integriertes Konzept, das finanzielle Leistungen mit Angeboten sozialer Infrastruktur, etwa Beratungsstellen, Bildungsangeboten, Lebenshilfe, verknüpft.

Wie bewerten Sie das Problem Altersarmut?

Welskop-Deffaa Die Altersarmut wird bagatellisiert. Die wechselhaften Erwerbsbiografien der vergangenen Jahrzehnte werden aber schon bald zu Armutsrenten führen. Wer sich jahrelang mit kleiner Selbstständigkeit über Wasser hielt, sozialversicherungsfreie digitale Jobs erledigt hat oder nach einer erziehungsbedingten Erwerbsunterbrechung den Wiedereinstieg im Minijob sucht, bekommt im Alter mit Sicherheit ein Problem. Dass die Sozialversicherungspflicht für Selbstständige nicht im Koalitionsvertrag steht, ist eine große Enttäuschung.

 Die Präsidentin der Caritas, Eva Welskop-Deffaa, bei ihrer Wahl zur Chefin des Verbandes im Freiburger Konzerthaus

Die Präsidentin der Caritas, Eva Welskop-Deffaa, bei ihrer Wahl zur Chefin des Verbandes im Freiburger Konzerthaus

Foto: Philipp von Ditfurth / dpa

Was wünschen Sie sich vorrangig für die Bekämpfung der Armut?

Welskop-Deffaa Wir müssen Not lindern und Not verhindern. Die Prävention von Armutsrisiken ist sehr wichtig. Bei Hartz-IV-Empfängern müssen der Vermittlungsvorrang fallen und Weiterbildungsangebote attraktiver gemacht werden. Sonst kommen die Menschen nie aus der Niedriglohnfalle heraus. Und wir benötigen eine konzertierte Anstrengung bei der Bekämpfung der internationalen Armut. Existenzsichernde Löhne weltweit und der Aufbau sozialer Sicherungssysteme in unseren Partnerländern sind riesige Aufgaben, doch die Alternative lautet eine Armutsmigration, die die Menschen entwurzelt und in Deutschland zusätzliche Armut schaffen kann, wenn der Start nicht gut gelingt. Die Pläne der Ampel-Koalition zur erleichterten Anerkennung von ausländischen Bildungsabschlüssen sind hier ein sehr guter Ansatz.

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