Freie Wähler klettern auf 3,5 Prozent Vor einem Acht-Parteien-Parlament

Analyse | Berlin · Nun ist auch der Einzug der Freien Wähler in den Bundestag greifbar geworden. Was die einstige lokale Bürger-Bewegung ausmacht, wem sie Stimmen wegnimmt und welche Auswirkungen das auf die Kanzlerfrage hat.

 Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger bei einer Pressekonferenz im Juli in Berlin.

Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger bei einer Pressekonferenz im Juli in Berlin.

Foto: dpa/Christophe Gateau

Wiederholt sich bei der Bundestagswahl im September das Phänomen der rheinland-pfälzischen Landtagswahl vom März? Seinerzeit hatten sich die Freien Wähler (FW) unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit Sympathien unter „Sonstige“ erarbeitet. Nur das Insa-Meinungsforschungsinstitut taxierte die FW lange bei drei Prozent. Zwei Wochen vor der Wahl wies auch die Forschungsgruppe Wahlen erstmals Zahlen für die FW aus, die inzwischen bereits bei fünf Prozent angelangt waren - und dann in Fraktionsstärke in den Landtag einzogen. Auf Bundesebene stehen sie jetzt laut Insa bei 3,5 Prozent. Damit ist ein Acht-Parteien-Parlament in Reichweite gekommen.

„Wir nehmen nicht nur Armin Laschet Stimmen weg, sondern auch den anderen“, sprach FW-Chef Hubert Aiwanger bereits vor der Wahl in Sachsen-Anhalt. Zwar konnten sie zwar in Magdeburg mit 3,1 Prozent der maßgeblichen Zeitstimmen den Erfolg von Mainz nicht wiederholen. Doch bei den Erststimmen hatten sie auch dort 5,4 Prozent geschafft. Mit ihnen muss also gerechnet werden. Zuvor schon war ihr Potenzial vor allem in Bayern sichtbar geworden - seit sie 2018 an der SPD vorbei zogen, mit 11,6 Prozent beachtliche 2,6 Prozentpunkte hinzugewannen und danach eine Koalition mit der CSU bildeten. Aiwanger wurde stellvertretender Ministerpräsident.

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Wem nehmen die Freien Wähler die Stimmen weg? Eine Untersuchung der Universität München kam aufgrund von Wählerbefragungen zu dem Ergebnis, dass der FW-Triumph 2018 in erster Linie auf Kosten der Union ging. Geschätzt 180.000 Stimmen hatten die FW von vormaligen CSU-Wählern erhalten. Aber: Dicht darauf folgten schon 139.000 unzufriedene ehemalige SPD-Wähler. Auch der FDP fügten die FW empfindliche Wählerverluste zu: 46.000 Wähler wechselten von den Freien Demokraten zu den Freien Wählern. Und selbst von den Grünen konnten sie 31.000 vormalige Wähler gewinnen.

Wiewohl Freie Wähler in Dörfern, Städten und Landkreisen bereits in den 1950er Jahren in den Räten mitarbeiteten und einzelne Persönlichkeiten sogar lokale Mehrheiten erobern konnten, ist die Bewegung mit Ambitionen auf Landes- und Bundesebene noch relativ jung. Noch 1998 stritten die FW darüber, ob sie wirklich im Freistaat für den Landtag kandidieren sollten. Die Bundesvereinigung wurde erst 2009 gegründet. Ihr Kurs verlief zunächst zwischen Union und FDP, später zwischen Union und AfD. Nicht von ungefähr war der Euro-Skeptiker Bernd Lucke Anfang 2013 Kandidat auf der Liste der Freien Wähler in Niedersachsen, bevor er die AfD gründete.

Im aktuellen, 128 Seiten dicken Bundestagswahlprogramm bezeichnen sich die Freien Wähler als „Die Kraft der Mitte“. Sie grenzen sich von der AfD ab, haben aber keine Scheu, Sätze zu verwenden, die auch AfD-Politiker unterschreiben könnten. Auf Dauer könne Deutschland dauerhafte Zuwanderung „unter Berufung auf das Asylrecht“ nicht bewältigen. „Wir stehen zum Asylrecht“, schreiben die Freien Wähler, allerdings sollen alle Flüchtlinge nur bleiben, „bis die Lage in ihren Heimatländern eine Rückkehr zulässt“.

Anders als die AfD wollen die Freien Wähler nicht den Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union, diese aber reformieren und den Ausschuss der Regionen zu einer dritten Kammer aufwerten. Offenkundig sollen vor allem konservative Wähler angesprochen werden. Jedenfalls heißen Kapitel-Überschriften des Programms „Ehrlichkeit und Fleiß“ oder „Anstand und Ordnung“. In ihrer praktischen Politik sind die FW durchaus ambitioniert. So wollte ihr bayerischer Umweltminister Thorsten Glauber die Klimaneutralität Bayerns fünf Jahre früher erreichen als die CSU. Zu massiven Spannungen in der Münchner Koalition führt in jüngster Zeit das Eintreten Aiwangers für Impfunwillige und seine drastische Wortwahl, nach der die Unterscheidung in Geimpft und Ungeimpfte der Rassentrennung im Apartheid-Staat gleichkomme.

Sollten die Freien Wähler tatsächlich die Fünf-Prozent-Hürde überwinden, müssten CDU, CSU, SPD, Grüne, FDP, AfD und Linke die Posten im Parlament auch auf einen achten Mitspieler übertragen. Und Folgen hätte das auch für die Koalitionsarithmetik. Nach derzeitigem Stand der Insa-Umfragen hätten nur Koalitionen aus Union, Grünen und FDP sowie aus Union, SPD und FDP eine Kanzlermehrheit. Bei ein wenig Bewegung könnte es auch eine Ampel aus Grünen, SPD und FDP schaffen. Die Optionen würden sich mit den Freien Wählern erweitern: Dann würde es auch für Koalitionen aus Union, Grünen und Freien Wählern sowie aus Union, SPD und Freien Wählern reichen - und die Ampel verfügte über eine sichere Mehrheit, wenn Rot, Gelb und Grün Orange dazunähmen.

Ein anderes Problem würde noch prekärer: Die drohende weitere Aufblähung des Bundestages. Je nach Splitting-Verhalten der Wähler zwischen Erst- und Zweitstimme droht ein Anwachsen der Mandatszahl auf über tausend. Wenn Überhangmandate dann bei noch mehr kleineren Parteien Ausgleichsmandate auslösen, wird der Bundestag noch größer. Schon jetzt hat er mit 709 Abgeordneten seine Normgröße von 598 gesprengt. Die Unzufriedenheit mit den bürgerlichen Parteien hat auch damit zu tun, dass sie die Wahlrechtsreform nicht hinbekommen haben. Eine FW-Fraktion würde ihnen das in einem aus allen Nähten platzenden Parlament noch mehr vor Augen führen.

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