FDP-Chef im Porträt Christian Lindner - Der Verführer
Düsseldorf/Berlin · Während des Wahlkampfes war der FDP-Chef bei so ziemlich allen Themen präsent. Aber die neue Idee findet nicht jeder gut, sagt Christian Lindner. Was aber genau ist seine neue Idee?
Das Hemd ist nicht weiß, es ist hellblau. Das Hemd sitzt auch nicht perfekt, es klebt am Bauch. In dem Saal, Kronleuchter und weiße Säulen, steht die Luft. Sie riecht nach Schweiß und Gaffel-Kölsch. Der letzte Dienstag im August, es ist noch einmal warm geworden im Land. Die Menschen in Bergisch Gladbach könnten den Abend genießen, auf dem Balkon zum Beispiel. Stattdessen stehen sie nun in diesem Saal, Wirtshaus am Bock, erste Etage, eng beieinander und sehen wegen der untergehenden Sonne nur die Schweißflecken auf seinem hellblauen Hemd. Aber immerhin, es ist das Hemd von Christian Lindner.
Der Scheinwerfer strahlt auf einen Platz der Bühne, den der Vorsitzende der Freien Demokraten meidet. Er läuft lieber hin und her, das Mikrofon in der Hand. In den Stuhlreihen, an denen Lindner, der hier im Rheinisch-Bergischen Kreis Direktkandidat ist, vorbeikommt, sitzen Träger von S.-Oliver-Sakkos, von Gucci-Handtaschen, von weißen Turnschuhen und hochgekrempelten Anzughosen, von kurzärmligen Hemden, von Siegelringen, von schwarzen, kurzen Kleidern und von zarten Tattoos.
Egal wie die Wahl ausgeht: Lindner hat etwas erreicht
Lindner, 38 Jahre alt, verheiratet, keine Kinder, hat etwas erreicht. Egal, wie diese Wahl ausgeht. Wenn sich auch nicht alle Facetten der Gesellschaft wieder für die FDP interessieren, so sind es seit der vergangenen Bundestagswahl doch sichtbar mehr geworden. "Eine liberale Partei", sagt Lindner, "kann nicht nur repräsentiert werden von Sakkoträgern mit Goldknopf." Die kommen zwar immer noch, bringen aber im Wahlsommer 2017 nicht mehr nur ihre gut aussehenden Söhne, sondern auch ihre gut aussehenden Töchter mit zur FDP. Zur Partei der Schönen und Vernetzten, zur Partei des Zeitgeistes.
Die Geschichte dorthin ist die Geschichte des Christian Lindner. Es ist der 23. September 2013, der Montag, nachdem die traditionsreiche FDP abgewählt worden ist. Auf einmal war die Fünf-Prozent-Hürde für die Partei von Hans-Dietrich Genscher und Theodor Heuss zu hoch. In dieser Stunde, der schwersten der Liberalen überhaupt, bewirbt sich der junge Christian Lindner um den Parteivorsitz. Er, der in der FDP schon vieles war, Abgeordneter, Hoffnungsträger, Generalsekretär, wollte seine Partei aus der Versenkung holen. Jene Partei, die als Partei der Steuersenker, der Hoteliers, gar als Gurkentruppe galt. 2012 war Lindner als Generalsekretär unter dem Vorsitzenden Philipp Rösler zurückgetreten. In einem Sammelband über Rücktritte schreibt er: "Ich hätte sonst meine Seele verloren." Fünf Jahre später ist die FDP wieder da.
Lindner, der am 7. Januar 1979 in Wuppertal geboren wird, in Wermelskirchen aufwächst und zur Schule geht, tritt mit 14 in die FDP ein. Ulrich Schäfer, der Lindner von der fünften bis zur 13. Klasse in Mathe unterrichtet, spricht 20 Jahre nach dessen Abitur von einem "normalen Schüler", einem, der weder faul noch fleißig war, weder laut noch leise. Im Leistungskurs, erinnert sich Schäfer, hatte Lindner selten die Hausaufgaben. Aber wenn er sie dann an der Tafel vorrechnen musste, hatte er keine Probleme.
Aber was, um Himmels willen, ist eigentlich seine neue Idee?
Im Wahlkampf 2017 steht der FDP-Vorsitzende sechs-, sieben-, manchmal auch achtmal am Tag an der Tafel. Er rechnet dann keine linearen Gleichungen mehr vor, sondern seine neue Idee von der FDP. In Bergisch Gladbach, Bielefeld, Kassel, Hannover oder Stuttgart spricht er genauso frei wie in Schäfers Matheunterricht. "Schauen wir nicht länger zu", sagt er dann. "Denken wir neu", "Wir brauchen wieder Mut", "Manchmal muss ein ganzes Land vom Zehner springen" - und: "Die neue Idee findet nicht jeder gut". Aber was, um Himmels willen, ist eigentlich seine neue Idee?
An jedem zweiten deutschen Laternenpfahl hängt ein Plakat, das Lindner mit wachen Augen und feinen Zügen zeigt. Ein wenig scheu wirkt er beinahe, ganz wie ein Reh, das die Leute ja auch irgendwie schön finden. Wohl auch deswegen trägt er den Spitznamen "Bambi". Im Fernsehen sagt er, dass er lieber über Inhalte spricht als über Koalitionen. Um im nächsten Interview zu erklären, ihm fehle die Fantasie für ein Bündnis aus Union, Grünen und FDP. Lindner spricht derart viel, über Russland und die Krim, über Flüchtlinge, über die Supermacht Bildung und den Breitbandausbau, dass man nach vielen Stunden Zuhören und Lesen das Gefühl haben kann, dieser Mann steht für alles. Und für nichts.
Der Vorsitzende hat seine Partei neu angestrichen. Aber viele Inhalte sind aus der grauen Vergangenheit geblieben. Bürokratieabbau, zum Beispiel, oder Steuersenkungen. Lindner spricht davon indes nicht mehr so viel, sondern deutlich lieber von Bildung oder der digitalen Gesellschaft. Die Risiken des Internets, Gefahren für Bürgerrechte oder von Cyberkriminalität lässt der FDP-Chef oft aus. Wenn es um Bürgerrechte geht, um Freiheit, zitiert Lindner gern den 84-jährigen früheren Justizminister Gerhart Baum. Lindner liebt die Provokation, etwa als er sich harsch zu Flüchtlingen äußerte oder empfahl, die Annexion der Krim "zunächst als dauerhaftes Provisorium" zu betrachten.
Das Menschenbild Lindners: Jeder ist seines Glückes Schmied
Im Alter von 14 Jahren trifft Christian Lindner nicht nur die Entscheidung, in die Politik zu gehen, sondern noch eine andere. Fast 100 Kilo hat er da gewogen, hat er der "Bunten" erzählt. Und nach einem halben Jahr Joggen und Knäckebrot hat er endlich sein Ziel erreicht: schlank sein. So wie er sich vom Übergewicht befreit hat, so hat er seine Partei vom sichtbaren Muff befreit. Es ist das Menschenbild von Christian Lindner, das sich daraus ableitet. Jeder ist seines Glückes Schmied. "Niemand ist geboren worden und war bei Geburt überflüssig", sagt er schon mal in seinen Reden. Gibt es in der Welt des Liberalen also Menschen, die sich in ihrem Leben überflüssig gemacht haben?
Während des Abiturs macht Lindner sich selbstständig, gründet eine PR-Agentur. "Der eine wartet, dass die Zeit sich wandelt, der andere packt sie an und handelt", sagt der Anzug tragende Lindner in einem wieder aufgetauchten Video. 2000 gründet er das nächste Unternehmen, ein Jahr später ist es insolvent. Lindners Geschichte, jedenfalls die, die Lindner erzählt, ist auch eine des Wiederaufstiegs. Der Selfmademan spricht erstaunlich oft von Emmanuel Macron, dem französischen Präsidenten. Vergleichen will er sich aber nicht mit ihm. Er fürchtet den Vorwurf des Größenwahns.
Während Angela Merkel erzählt, dass sie ihre Kartoffelsuppe eher stampft als püriert, und Martin Schulz, dass er Alkoholiker und Buchhändler war, erzählt Christian Lindner kaum etwas über sich. Er findet das nicht wichtig. "Ihr wählt mich nicht wegen meiner Kartoffelsuppe, sondern als euren Problemlöser, als Anwalt eures Lebensgefühls", sagt er. Nur die Geschichte vom Scheitern seiner Firma erzählt Lindner gern, vielleicht, weil sein Weg dann steiniger erscheint.
Lindner (Lieblingstugend: Toleranz), der im Rampenlicht wirkt, als sei er Ritter Christian, mit einer Rüstung und scharfen Worten als Waffe, als sei das Leben ein Kampf, in dem der Aggressivste obsiegt, legt all das in seinem Büro im Landtag ab. Er brüllt nicht mehr wie auf der Bühne, betont die Konsonanten nicht mehr wie im Fernsehen. Es kehrt Ruhe in den Mann, der sich seit vier Jahren im Wahlkampf befindet. Er antwortet ohne Zögern auf die Frage, was geschehen würde, wenn er, der ja die Partei ist, plötzlich krank wäre: "Dann käme jemand anders."
Die Jungen, die Lifestyle mit Persönlichkeit verwechseln, strömen zu diesem Mann. Den Anderen verspricht Lindner, sie in Ruhe zu lassen, und ein Leben nach dem Prinzip Eigenverantwortung. Den amerikanischen Traum. Christian Lindner sagt: Alles, was dir gelingt, hast du selbst geschafft. Er meint auch: Alles, was dir nicht gelingt, hast du selbst vertan.