Bevölkerungsanalyse Die Alten entscheiden die Bundestagswahl

Berlin · Die Hälfte der Wahlberechtigten bei der Bundestagswahl ist bereits über 52 Jahre alt. Kein Wunder, dass Pflege und Rente den Wahlkampf beherrschen und die Parteien ihr Angebot stärker an den Interessen der Älteren ausrichten.

 Rentner auf einer Parkbank (Symbolbild).

Rentner auf einer Parkbank (Symbolbild).

Foto: Sergii Korshun / shutterstock.com

Die wahren Stars in den TV-Wahlarenen mit Angela Merkel waren die Altenpfleger. Zwei junge Männer, einer noch in der Ausbildung, der andere seit 14 Jahren im Beruf, prangerten jeweils katastrophale Personalengpässe, schlechte Bezahlung und Zeitnot in den Pflegeheimen an. Das Pflegethema war der emotionale Höhepunkt nicht nur bei Merkel. Auch in der Zuschauer-Arena mit SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz sprach eine Betroffene über die schwierige Situation im Pflegeheim. Schulz versprach ihr gleich einen kompletten "Neustart" nach der Wahl: mehr Pflegeplätze, mehr Personal und 30 Prozent höhere Löhne für die Pfleger.

Das hohe Interesse am Pflegethema verwundert kaum. Es macht Bedürfnisse einer bereits stark gealterten Gesellschaft sichtbar. Kaum eine Familie ist von der Pflegebedürftigkeit Angehöriger nicht berührt. Auch das Durchschnittsalter der 61,5 Millionen Wahlberechtigten ist stark gestiegen. Die Hälfte ist bereits über 52 Jahre alt, wie das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) gerade errechnet hat. Die über 60-Jährigen stellen mit gut 36 Prozent bei der Bundestagswahl am Sonntag die größte Wählergruppe. Im Vergleich zu 1980 wuchs diese Altersklasse um über sieben Prozentpunkte.

Längst haben sich die Parteien auf die Lebenswirklichkeit der Alten-Republik eingestellt. "Alle Parteien kümmern sich zu wenig um die Zukunft der jungen Generationen", beklagte der frühere Finanzminister Theo Waigel (CSU) unlängst bei "Anne Will". Wegen der Alterung liegt es für den Bevölkerungsforscher Tim Aevermann vom BiB "nahe, dass die Interessen älterer Menschen von den Parteien immer stärker berücksichtigt werden, da sie eine wachsende Wählergruppe darstellen".

Ältere Wähler beschäftigt besonders, wie sie ihre letzten Lebensjahre verbringen werden. Nicht von ungefähr kommen Themen wie Pflege und Altersarmut jetzt auf den letzten Wahlkampf-Metern stärker auf. Doch auch die innere und äußere Sicherheit haben bei Älteren einen besonders hohen Stellenwert. Mehr Videoüberwachung auf öffentlichen Plätzen, weniger Freiheit durch mehr Kontrolle im Internet — für Ältere sind solche Pläne weniger problematisch. Zukunftsthemen wie Klimaschutz, Digitalisierung, Ganztagsbetreuung, Gebührenfreiheit für Kitas und Universitäten oder die "Ehe für alle" interessieren Senioren dagegen weniger.

Mit der Umweltpolitik tun sich Ältere oft schwer. In Hamburg etwa führen Senatspläne zum Ausbau der Fahrradwege vor allem viele Ältere auf die Barrikaden. Die wenigsten von ihnen wollen auf das Fahrrad umsteigen. Die Senioren lehnen deshalb Straßenrückbau oder Verengungen mehrheitlich ab, weil sie weiter mit ihren Autos überall hinfahren und parken wollen.

Die Wahlplakate zur Bundestagswahl 2017 in Düsseldorf im Vergleich
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Die Wahlplakate zur Bundestagswahl im Vergleich

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Foto: SPD Düsseldorf

Zu beobachten waren die Wirkungen des demografischen Wandels auch schon in der jetzt zu Ende gehenden Wahlperiode. Im Koalitionsvertrag von 2013 hatten sich Union und SPD auf die Addition ihrer rentenpolitischen Vorhaben geeinigt, hinterfragt wurde keines von ihnen. Die SPD setzte die Rente mit 63 durch, die Union realisierte die Anhebung der Mütterrenten. Alles in allem erhöhte die große Koalition die jährlichen Ausgaben der Rentenversicherung um mehr als zehn Milliarden Euro. Bis 2030 fallen Zusatzkosten von über 100 Milliarden Euro an. Schultern müssen diese vor allem die nachkommenden Generationen, die während ihres Erwerbslebens höhere Rentenbeiträge und Steuern bezahlen müssen.

Erstaunlicherweise gab es aber von Kindern und Enkeln kaum Proteste. In Umfragen unterstützten sogar 80 Prozent der Jüngeren die Aufbesserung der Mütterrenten. Der Protest gegen die zukunftswidrige Rentenpolitik der großen Koalition war vor allem ein Medien-Protest. Desinteresse oder Unwissenheit bei Jüngeren können dazu beitragen, dass sich vor allem die Rentenpolitik auch künftig nur nach den Interessen älterer Generationen richtet.

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Foto: dpa, Julian Stratenschulte

Dazu passt, dass die Wahlbeteiligung Älterer höher ist als die der Jüngeren. In Großbritannien zeigte sich, dass für den EU-Austritt des Landes überwiegend die Älteren gestimmt hatten, die Jungen waren mehrheitlich für den EU-Verbleib. Von ihnen aber gingen nur wenige zur Wahl - und deshalb wurden sie auch überstimmt. Bei der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten war das Phänomen ebenfalls zu sehen. Auch in Deutschland ist die Wahlbeteiligung der über 60-Jährigen am höchsten.

Ältere Wähler sind konservativer, politische Experimente mögen sie weniger. Sie tendieren mehr als Jüngere zu den großen Volksparteien — und im Vergleich der beiden eher zur Union als zur SPD. Bei der jüngsten Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen haben 46 Prozent der über 70-Jährigen die Partei von CDU-Ministerpräsident Armin Laschet gewählt. Auch bei der Bundestagswahl 2013 holte die Union bei den über 70-Jährigen mit 43,6 Prozent ihr bestes Wahlergebnis. "Unter den Senioren schneidet die Union um etwa fünf bis zehn Prozentpunkte besser ab als im Durchschnitt", hieß es in einer Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Jüngere können immerhin auf die Solidarität der Älteren hoffen. "Wir sprechen ausdrücklich nicht von einem Generationenkonflikt, nach dem Motto Alt gegen Jung. Viele Rentner haben Kinder und Enkel und können sich in deren Lebenssituation hineinfühlen", so BiB-Experte Aevermann. "Sie dürfen älteren Wählern nicht unterstellen, dass diese bei ihrer Wahlentscheidung nur an sich denken. Auch ältere Leute sorgen sich um die Zukunft, insbesondere um die ihrer Kinder und Enkel", sagte unlängst Finanzminister Wolfgang Schäuble, mehrfacher Vater und Großvater, der seit Montag 75 Jahre alt ist. Das mag so sein. Doch vor allem bei knappen Wahlentscheidungen liegt dann doch eher diese Vermutung nahe: Jeder ist sich selbst der Nächste.

(mar)
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