Die Ampel steht Aufbruch trotz Corona-Krise?

Analyse | Berlin · Olaf Scholz hat es geschafft: Der Koalitionsvertrag ist fertig. Das Dreierbündnis gönnt sich ein Ministerium mehr. Habeck wird Deutschlands neuer Vizekönig, Lindner Schatzkanzler. Doch die tödliche Corona-Welle überschattet den Start der Regierung.

 Er ist dem Kanzleramt einen sehr großen Schritt näherkommen: Olaf Scholz bei der Ankunft am Westhafen in Berlin, wo der Koalitionsvertrag vorgestellt wurde.

Er ist dem Kanzleramt einen sehr großen Schritt näherkommen: Olaf Scholz bei der Ankunft am Westhafen in Berlin, wo der Koalitionsvertrag vorgestellt wurde.

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Der kommende Kanzler bringt seinen großen Erfolg hanseatisch trocken auf den Punkt. Scholzig knapp eben: „Die Ampel steht.“ Drei-Wort-Sätze waren mal die Spezialität von Franz Müntefering. Olaf Scholz mag es ähnlich pragmatisch. 1924 sei in Berlin am Potsdamer Platz die erste Verkehrsampel errichtet worden. Die Menschen hätten sich damals gefragt, ob das funktionieren könne. Ampeln regelten seitdem sicher den Verkehr, gäben richtige Orientierung. Dies nehme sich die erste Dreierkoalition aus SPD, Grünen und FDP für die kommenden vier Jahre vor: „Mein Anspruch als Bundeskanzler ist es, dass dieses Ampelbündnis eine ähnlich wegweisende Rolle für Deutschland spielen kann“, sagt Scholz bei der Präsentation des Koalitionsvertrages in einer früheren Lagerhalle im Berliner Westhafen. Am 7. oder 8. Dezember will er sich im Bundestag zur Kanzlerwahl stellen - habemus cancellarius.

Christian Linder, der künftige Finanzminister und Vize-Vizekanzler, schmeichelt dem Merkel-Nachfolger. „Wir haben Olaf Scholz neu kennengelernt.“ Der FDP-Chef schafft es galant, mit einem abgewandelten Zitat von Egon Bahr, dem einstigen SPD-Architekten von Brandts Ostpolitik, Scholz jene innere Haltung und Größe zu attestieren, die diesen zu einem starken Bundeskanzler befähigen werde. 

Die am 28. Oktober gestarteten Ampel-Gespräche (alles fing mit einem grün-gelben Selfie an) seien „genauso kontrovers wie diskret“ gewesen, verrät Lindner. Um einzelne Sätze sei teilweise Stunden gerungen worden. SPD und Grüne hätten stark verhandelt und könnten stolz sein. Lindner baut damit den Grünen eine Brücke, deren Anhängerschaft in der am Donnerstag startenden digitalen Mitgliederbefragung den Koalitionsvertrag und das Klimakapitel mit der Lupe nach Versäumnissen durchsuchen wird.

Lindner kennt die Traumata aus Koalitionsverhandlungen zur Genüge. 2009 zerstörte sich die Westerwelle-FDP selbst, weil sie auf das Finanzministerium verzichtete. 2017 ließ Lindner Jamaika platzen, weil Merkels Union ihn nicht für voll nahm. Jetzt hat er sehr viel herausgeholt. Mit ihm als Finanzminister will die FDP „Anwalt solider Finanzen“ sein. Daneben bekommen die Liberalen Verkehr (das soll Volker Wissing übernehmen), Justiz mit dem Lindner-Vertrauten Marco Buschmann sowie die Verantwortung für Bildung, wo Bettina Stark-Watzinger vorgesehen ist. Die FDP wird Zugriff auf viel Geld haben, um ihre Anliegen Digitalisierung und Ausbau der Bildungsrepublik voranzutreiben. Die Ampel werde nicht eine Koalition des Ausschließens, sondern der komplementären Politik, sagte Lindner, um zu betonen. „Demut ist ratsam angesichts der Herausforderungen.“ Die nächste Regierung werde auch die Union brauchen, um das Land zu verändern. Ein versöhnlicher Gruß, eine schwarz-gelbe Reminiszenz? Eher strategisches Kalkül. Stellen sich CDU und CSU im Bundesrat quer, wird es für die Ampel richtig hart.

Dann darf Deutschlands neuer Vizekönig an. Mit Robert Habecks Sprache zieht ein neuer Sound ins Regierungsviertel ein. Der promovierte Philosoph, Schriftsteller, Ex-Umweltminister schultert eine Aufgabe, deren Fallhöhe gewaltig ist. Superminister für Wirtschaft und Klima. Seiner Partei verspricht er, die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt auf den1,5-Grad-Ziel-Pfad zu bringen, „idealerweise“ bis 2030 aus der Braunkohle auszusteigen und die Energiewende zum Erfolg zu führen - ohne massive Kostennachteile für Millionen Pendler und Verbraucher. Die Vereinbarkeit von Wohlstand und Klimaschutz ziehe sich wie ein roter Faden durch den Koalitionsvertrag, behauptet er. Auf der Bühne duzt er alle. „Es war manchmal ganz schön anstrengend, wir haben uns ganz schön viel zugemutet.“ Nun werde die Ampel auch vielen Menschen etwas zumuten. Die Spitzenpolitiker hätten viel voneinander gelernt hat. Das sei vorbildhaft. Die Ampel wolle „ein lernendes Deutschland - das ist das Versprechen, das wir uns geben.“

Für die entgangene Kanzlerkandidatur soll Habeck mit dem Vizekanzler-Titel entschädigt werden. Da das Grundgesetz nur einen Stellvertreter vorsieht, darf Lindner einspringen, wenn Scholz und Habeck zum Beispiel gleichzeitig Urlaub machen. Die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock wird als erste Frau Außenministerin. Im Westhafen verpasst sie eine erste Gelegenheit, die neugierigen westlichen Verbündeten für sich einzunehmen. Die Grünen erhalten außerdem die Ressorts Familie (Katrin Göring-Eckardt gilt als Favoritin), Landwirtschaft (Anton Hofreiter?) und Umwelt (Steffi Lemke).

Wie sieht das um ein Haus (Bauen) erweiterte Kabinett Scholz ansonsten aus? Die SPD erhält Verteidigung, Gesundheit, Bauen, Entwicklung, Innen und Arbeit. Arbeitsminister soll Hubertus Heil bleiben, Innenministerin die bisherige Justizministerin Christine Lambrecht. Als Kanzleramtschef wird Wolfgang Schmidt erwartet. Bauministerin könnte Svenja Schulze werden – oder sie übernimmt das Gesundheitsministerium, das wegen Corona wie eine schmutzige Atombombe auf dem Ampeltisch herumlag. Und Verteidigung? Zieht die Wehrbeauftragte Eva Högl einfach um in den Bendlerblock? Scholz will die SPD-Karten erst rund um den Parteitag am 4. Dezember aufdecken.

Knallen bei den drei Parteien jetzt die Sektkorken? Die Grünen mussten 16 Jahre auf eine Regierungsbeteiligung im Bund warten, die FDP immerhin acht. Der Start der Koalition, die ihren Koalitionsvertrag mit „Mehr Fortschritt wagen“ betitelt, findet in außergewöhnlich ungemütlichen Zeiten statt. Katastrophenmanagement statt Aufbruch, heißt es für Scholz & Co. angesichts der gefährlichen vierten Corona-Welle. 100.000 Menschen sind seit Ausbruch der Pandemie gestorben. Es werden noch deutlich mehr werden.

Mitten im Verhandlungsfinale hatte Noch-Kanzlerin Angela Merkel die Ampelmänner – und frauen zu sich zitiert. Bevor die gesetzliche epidemische Notlage an diesem Donnerstag ausläuft, wollte Merkel knallharte Maßnahmen verhängen, etwa Lockdowns in Regionen mit extrem hohen Inzidenzen und knappen Intensivbetten wie Sachsen und Bayern.

Scholz wehrt sich gegen Lockdowns. Auch eine allgemeine Impflicht will er nicht gleich zum Start als Kanzler den Deutschen aufbürden. Dafür kündigt er am Mittwoch eine Impfpflicht für Beschäftigte in der Pflege an. Diese könnte auf andere Berufe ausgeweitet werden. Quasi als Trostpflaster kündigt er Bonuszahlungen für alle Pflegerinnen und Pfleger im Land an. Eine Milliarde Euro will die Ampel dafür ausgeben. Außerdem baut Scholz im Kanzleramt einen Bund-Länder-Krisenstab ein. Täglich will er sich mit Virologen, Epidemiologen oder Soziologen austauschen, wie das Virus besiegt werden kann.

Scholz wirkt entschlossen. Aber doch haftet dieser Koalition in der größten Gesundheitskrise der Nachkriegszeit vom Start weg der Makel des Zögerlichen an. War es nicht eine krasse Fehleinschätzung, vor allem auf Druck der FDP die epidemische Notlage auslaufen zu lassen? Aus den Ländern, auch von SPD-Ministerpräsidenten, wächst der Druck gewaltig, werden Rufe nach einer allgemeinen Impfpflicht immer lauter. Scholz hat große Herausforderungen nie gescheut. Bald muss er zeigen, ob er Angela Merkels Fußspuren ausfüllen kann. Sie war 16 Jahre da (und verpasst Kohls Rekord um wenige Tage). Scholz will nicht nur vier, sondern acht Jahre bleiben.

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