Vor dem Koalitionsausschuss am Sonntag Jetzt ist der Kanzler gefragt
Berlin · Drei Tage vor dem wichtigen Treffen der Koalitionsspitzen am Sonntag im Kanzleramt beschwören die Ampel-Parteien plötzlich wieder ihren Einigungswillen. Doch grundverschiedene Auffassungen beim Klimaschutz, Verkehr und Haushalt lassen sich nicht einfach verdecken. Bundeskanzler Scholz soll Führung zeigen, heißt es in der Koalition.
Nach der Wut-Rede von Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) über die schlechte Zusammenarbeit in der Koalition und scharfen Reaktionen vor allem aus der FDP sind die Ampel-Parteien bemüht, den angerichteten öffentlichen Schaden wieder zu begrenzen. Die Menschen „erwarten, dass man sich nicht ständig streitet, sondern dass man die Probleme gemeinsam löst“, sagte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) am Donnerstag bei einem Besuch in Nordmazedonien. Zuvor hatte SPD-Chef Lars Klingbeil die Partner zur Mäßigung aufgerufen.
SPD, Grüne und FDP wollen bei einem Spitzentreffen am Sonntagabend im Kanzleramt wichtige Streitpunkte beim beschleunigten Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, beim Klimaschutz im Verkehr und beim Heizungstausch ausräumen. Im Koalitionsausschuss kommen am Sonntag ab 18 Uhr jeweils sechs Vertreter von Grünen und FDP mit den fünf SPD-Vertretern zusammen. Die Parteien richten sich auf einen langen Abend ein, denn in den vergangenen Wochen hatten sich die Konflikte gehäuft. Insgesamt liegen bis zu 30 Gesetzesvorhaben auf Eis, weil sich die Parteien über Details uneinig sind. Mit 17 Personen sei der Koalitionsausschuss viel zu groß, um vertraulich und zielgerichtet miteinander zu reden, hieß es in Berlin.
Immerhin zeichnet sich bereits im Vorfeld eine Einigung bei den Gesetzen zur erleichterten Fachkräfteeinwanderung und besseren Weiterbildungsangeboten für Arbeitnehmer ab. Das Kabinett soll die Gesetzentwürfe, die am Donnerstag in die so genannte Ressortabstimmung gingen, kommenden Mittwoch billigen.
Die Grünen werfen der FDP vor, beim Klimaschutz im Verkehr zu mauern. Habeck erklärte, die Liberalen würden den Klimaschutz nicht ernst nehmen. Überdies unterstellte er einem der Partner, den noch unfertigen Gesetzentwurf aus seinem Haus zum klimaschutzbedingten Heizungsaustausch aus taktischen Gründen an Medien durchgestochen zu haben. Die FDP wiederum wirft den Partnern vor, nicht in der finanzpolitischen Wirklichkeit angekommen zu sein: Die Koalition müsse sparen, statt noch mehr Geld auszugeben.
„Wir müssen uns auf die Vorhaben konzentrieren, die Innovationen befördern und Wachstum schaffen. Das heißt konkret, dass wir auf eine solide Haushaltspolitik pochen: Die Schuldenbremse muss eingehalten werden und die Ausgaben des Staates müssen priorisiert werden“, sagte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai unserer Redaktion. „Gleichzeitig dürfen die Bürgerinnen und Bürger nicht weiter belastet werden. Das gilt für Steuererhöhungen, überbordende Bürokratie, das übereilte Verbot von Öl- und Gasheizungen oder auch das Aus für den Verbrennungsmotor“, betonte Djir-Sarai. „Die Menschen und die Wirtschaft müssen auf dem Weg hin zur Klimaneutralität mitgenommen werden. Klimaschutz kann nur gelingen, wenn er sich an den Erfordernissen und der Lebensrealität der Bürgerinnen und Bürger orientiert“, sagte er.
Die Grünen waren bei ihrer Fraktionsklausur in Weimar bemüht, die von Habeck verursachten Wogen wieder zu glätten. Co-Fraktionschefin Britta Haßelmann sprach vom „Team Ampel“, das etwa bei der Fachkräftezuwanderung viele Gemeinsamkeiten habe. Von ihrer Kritik an der FDP und an fehlender Führung durch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nahmen die Grünen aber nichts zurück. „Etwas mehr Tempo in den Entscheidungen, etwas weniger Blockade und etwas weniger Rumpeln in den Verfahren, das wäre gut“, sagte Co-Fraktionschefin Katharina Dröge. „Das gesamte Thema Klimaschutz und Verkehr ist ungelöst in dieser Koalition.“ Es sei auch Aufgabe des Kanzleramtes, Prozesse so zusammenzuführen, dass es am Sonntag Entscheidungen geben könne.
Bei der SPD ist man zunehmend genervt von den gegenseitigen Vorwürfen. Habecks Auftritt am Dienstagabend in den ARD-„Tagesthemen“ verfolgte man im Willy-Brandt-Haus mit einiger Fassungslosigkeit. Warum sich die Koalition nach einem aus SPD-Sicht erfolgreich überstandenen Winter öffentlich so zerlegt, sei nicht nachvollziehbar. Habecks Vorwürfe unter anderem gegen Scholz hält die SPD für unangemessen.
Bisher hielt sich die SPD-Fraktions-und Parteispitze mit öffentlichen Ermahnungen zurück. Dass sich nun der SPD-Vorsitzende Klingbeil am Mittwoch aus dem fernen Ankara mit einem Ordnungsruf meldete, machte deutlich, wie ernst man die Lage in der führenden Regierungspartei nimmt. Die moderierende Art des Kanzlers könnte nach anderthalb Jahren an ihr Ende gekommen sein. Es braucht jetzt kein „Weiter so“ mehr, das weiß man auch in der SPD und im Kanzleramt. Es könnte also eine lange, schlaflose Nacht-Sitzung am Sonntag werden – etwas, das man am Anfang der Zusammenarbeit unbedingt vermeiden wollte.