Kanzler Olaf Scholz im Interview „Putin trägt furchtbare Schuld“

Berlin/Kiew/Moskau · Russlands Präsident Wladimir Putin hat mit dem Angriff auf die Ukraine nach Überzeugung von Bundeskanzler Olaf Scholz „furchtbare Schuld“ auf sich geladen. Nach seiner Einschätzung braucht die Ukraine für ihren Abwehrkampf gegen Russland derzeit schwere Artillerie und Munition „am dringendsten“.

 Bundeskanzler Olaf Scholz bei dem Interview mit der dpa.

Bundeskanzler Olaf Scholz bei dem Interview mit der dpa.

Foto: dpa/Michael Kappeler

Über seine Reise in das angegriffene Land sagte Scholz in einem am Samstag veröffentlichten Interview mit der Deutschen Presse-Agentur, es sei „etwas anderes, wenn man die Zerstörungen mit eigenen Augen sieht und selbst spürt, dass an einem Ort konkret Menschen gestorben sind, dass in den Autos, die dort zerstört herumstehen, Familien saßen, die fliehen wollten und brutal erschossen wurden“.

Der SPD-Politiker hatte am Donnerstag mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi und dem rumänischen Staatschef Klaus Iohannis die Ukraine besucht. Dabei machte er unter anderem in Irpin Halt, wo nach dem Abzug russischer Truppen Ende März knapp 300 teils hingerichtete Zivilisten gefunden worden waren.

Die Ukraine stellt sich auf einen länger andauernden Abwehrkrieg ein und peilt neue Verhandlungen mit Russland erst für Ende August an - nach ukrainischen Gegenangriffen. Die Situation für Zivilisten, die noch in der hart umkämpften Stadt Sjewjerodonezk ausharren, wird immer schwieriger. Es gibt kaum noch Wege aus der Stadt heraus.

Ukraine versenkt russisches Schiff

Russland hat durch Angriffe des ukrainischen Militärs angeblich erneut ein Schiff seiner Schwarzmeerflotte verloren. Der Schlepper „Wassili Bech“ sei von ukrainischen Raketen beschädigt worden. „Später wurde bekannt, dass er gesunken ist“, sagte der Militärgouverneur von Odessa, Maxym Martschenko, in einer Videoansprache auf seinem Telegram-Kanal. Eine Bestätigung von russischer oder unabhängiger Seite gibt es nicht. Den ukrainischen Angaben nach wurde das Schiff, das erst 2017 in Dienst gestellt und mit einem Luftabwehrsystem des Typs „Tor“ ausgestattet worden war, von Harpoon-Raketen getroffen. Die Schiffsabwehrraketen hatte Dänemark an die Ukraine geliefert.

Zwei in der ukrainischen Armee kämpfende und von moskautreuen Truppen gefangen genommene US-Soldaten wurden in russischen Medien vorgeführt. Er habe der westlichen „Propaganda“ von den „schlechten Russen“ geglaubt und sei deswegen in den Krieg gezogen, rechtfertigte sich einer der Männer im Interview mit der kremlnahen Zeitung „Iswestija“, das das Medium am Freitag auf seinem Telegram-Kanal zeigte. „In den westlichen Medien wird uns nicht gesagt, wie inkompetent und korrupt die ukrainische Armee ist“, sagte er.

Der zweite Gefangene trat beim Kremlsender RT auf. Er übermittelte nur einen Gruß an seine Mutter und sprach von der Hoffnung, nach Hause zurückkehren zu dürfen.

Debatte über EU-Perspektive für die Ukraine

Bundeskanzler Scholz betonte im dpa-Interview, die EU unterstütze die Ukraine seit Kriegsbeginn „sehr geschlossen und entschlossen“. Es sei klar, dass der Weg in die EU nicht einfach werde, sondern viele Anforderungen zu erfüllen seien. „Das betrifft Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, aber auch alle anderen Regeln, die wir uns in Europa miteinander gegeben haben“, sagte Scholz. Es gehe für die Ukraine um eine „Zukunftsperspektive – die Hoffnung auf eine europäische und demokratische Perspektive für die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine“. Beim kommenden EU-Gipfel wolle man dazu „einen einvernehmlichen Beschluss erreichen“.

Die EU-Kommission hatte sich am Freitag dafür ausgesprochen, die Ukraine und Moldau offiziell zu Kandidaten für den Beitritt zur Europäischen Union zu ernennen. Als nächstes sind die Staats- und Regierungschefs am Zug.

Die stellvertretende EU-Parlamentspräsidentin Katarina Barley warnte vor zu viel Tempo auf dem Weg der Ukraine in die Europäische Union. „Überstürzte Beitritte darf es nicht geben. Wer einmal in der EU ist, kann nicht ausgeschlossen werden“, sagte die SPD-Politikerin der „Neuen Osnabrücker Zeitung“.

Straßenkampf und eingekesselte Zivilisten

In der erbittert umkämpften ostukrainischen Stadt Sjewjerodonezk dauerten Straßenkämpfe an. Die Stadt und ihre Umgebung lägen unter schwerem Artilleriefeuer, teilte der ukrainische Generalstab mit. Es sei unmöglich, die in Bunkern unter dem Chemiewerk Azot versteckten Zivilisten in Sicherheit zu bringen, sagte der Gouverneur von Luhansk, Serhij Hajdaj.

Nach Einschätzung des britischen Verteidigungsministeriums gibt es für Zivilisten angesichts zerstörter Brücken außer den von Russland und seinen Verbündeten einseitig ausgegebenen humanitären Korridoren kaum Wege, um aus der Stadt zu kommen. Andererseits habe Moskau schon in früheren Fällen in der Ukraine und auch in Syrien solche Korridore als Mittel missbraucht, um sich Vorteile auf dem Schlachtfeld zu verschaffen und Menschen zwangsweise umzusiedeln. In dem Chemiewerk sollen noch ukrainische Soldaten und Hunderte Zivilisten ausharren.

Scholz: Ukraine braucht schwere Artillerie und Munition

Nach Einschätzung von Bundeskanzler Scholz braucht die Ukraine für ihren Abwehrkampf gegen Russland derzeit schwere Artillerie und Munition „am dringendsten“. „Es geht auch um Schutz vor Angriffen aus der Luft mit Raketen“, sagte Scholz der dpa. Bei dem Treffen mit Selenskyj in Kiew sei es unter anderem darum gegangen, „wie Europa seinem Land jetzt weiter helfen kann“. Es sei ein „vertrauensvolles, kooperatives Gespräch“ gewesen.

Anreize zum Energiesparen

Als Anreiz zum Energiesparen angesichts stark gedrosselter Gaslieferungen aus Russland haben Politiker und Ökonomen Prämien für Verbraucher ins Spiel gebracht. Diese sollten gelten für Haushalte, die sparsam mit Gas umgehen. Scholz sagte der dpa auf die Frage, ob er über Maßnahmen nachdenke, mit denen man Energieeinsparungen auch in Privathaushalten erzwingen könnte: „Ich bin kein Anhänger davon, jetzt einzelne Maßnahmen zu diskutieren, bevor ein Gesamtkonzept vorliegt.“

Der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, sieht in der Drosselung der Gaslieferungen eine klare Strategie Russlands: „Russland liefert nun seit Tagen deutlich weniger Gas nach Deutschland und nach Europa. Das soll uns verunsichern und die Preise treiben.“

(felt/dpa)
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