„Brexodus“ hat begonnen Viele Briten wandern wegen Brexit nach Deutschland aus

London · Wegen des Brexit verlassen immer mehr Briten ihre Heimat – teils auch weil sie Anfeindungen erleben. Zehntausende von ihnen wollen nach Deutschland kommen.

Magdalena Williams versucht ein Lächeln, das ihr nicht gelingt. „Es ist, als ob ich wieder eine Heimat verloren habe.“ Sie sitzt an ihrem Wohnzimmertisch und knetet ihre Finger. Ihre Heimat, das ist zur Zeit noch das Städtchen St. Mary Cray im Südosten Londons. Ihre alte Heimat, das war vor über 60 Jahren das kommunistische Ungarn, aus dem ihre Familie 1956 flüchtete. Da war sie noch ein Kind. Jetzt steht wieder eine Flucht an. Williams, eingebürgerte Britin, will ihr Land wegen des bevorstehenden Brexit verlassen. Sie bemüht sich um die deutsche Staatsbürgerschaft – in ihrer Familie gibt es deutsche Wurzeln. Noch bevor der Brexit Ende März nächsten Jahres erfolgt, soll es losgehen. „Nach Passau vielleicht“, sagt die 70-Jährige, „das ist nahe Österreich, wo mein Bruder wohnt.“

Der „Brexodus“ von Briten, die ihrem Land den Rücken kehren, hat begonnen. Enttäuscht und besorgt über den Austritt des Landes aus der Europäischen Union, wandern viele auf den Kontinent aus, und nicht wenige wollen sich in Deutschland niederlassen. Die Zahl der Einbürgerungen britischer Staatsbürger, so ein Sprecher des Bundesinnenministeriums, sei bereits massiv gestiegen. Im Jahr 2015, vor dem Brexit-Referendum, hatten nur 622 Briten die deutsche Staatsangehörigkeit erworben. 2017 waren es dagegen 7493 – so viele wie nie zuvor. Und das sind oft nur die Briten, die heute schon in Deutschland wohnhaft sind. Noch im Königreich befinden sich laut einer Umfrage der Online-Jobplattform Stepstone rund 600.000 auswanderungswillige Briten. 44 Prozent von ihnen, also rund 264.000 Insulaner, benennen Deutschland als ihre erste Wahl.

Für Magdalena Williams ist die Emigration der ultimative Protest. Bis zum Referendum hatte sie sich als Britin gefühlt. „Ich bewunderte diese offene, tolerante Gesellschaft. Ich wurde angenommen, das ist für mich sehr wichtig als Flüchtling.“ Aber im Referendums-Wahlkampf habe sie Erfahrungen gemacht, die ihr die Augen öffneten. Sie hat Anfeindungen, sie hat Rassismus erlebt. „Es ist nicht mehr das Land, in das ich mich verliebt habe.“ Ein Neuanfang in Deutschland würde schwer. „Es ist ein Riesenschritt in meinem Alter. Aber hier will ich nicht bleiben.“

Die pensionierte Sprachlehrerin hat den Kampf gegen den Brexit zu einem Ganztagsjob gemacht. Sie verbringt täglich fünf, sechs Stunden in den sozialen Medien, um den Widerstand der „Remainer“, wie die Brexit-Gegner heißen, zu organisieren. Sie besucht Info-Abende, spricht auf Anti-Brexit-Veranstaltungen, hält vor dem Regierungssitz in der Downing Street Mahnwachen und ist regelmäßig bei Aufmärschen dabei. Selbst ihre beiden Hunde Bonnie und Biscuit werden eingespannt. Wenn es auf Demonstrationen gegen den Austritt geht, bekommen die beiden ein blaues Tuch mit goldenen Sternen um den Hals gebunden und marschieren mit.

Wenn Magdalena Williams im nächsten Jahr auswandert, werden Mike Moseley (60) und seine Lebensgefährtin Silke Oehler (49) schon in Deutschland angekommen sein. Im November soll der Umzug nach Mülheim an der Ruhr stattfinden. Moseley, von Beruf Ingenieur, will dann deutsche Firmen beraten, „die oft keine Ahnung haben, wie der Zugang zum britischen Baugewerbe funktioniert“. Oehler kann als Übersetzerin das Land wechseln „solange ich eine funktionierende Internetverbindung habe“.

Der Grund für ihren Umzug ist teilweise persönlicher Natur, weil Oehler für ihre 77-jährige Mutter sorgen will. Aber auch der Brexit hat sie zur Entscheidung gezwungen. Die Stimmung im Land hat sich gedreht, die Zahl der fremdenfeindlichen Übergriffe sind nach der Referendumsentscheidung massiv gestiegen. Ihre italienische Freundin Alice, berichtet Oehler, habe man vor vier Tagen in der U-Bahn angegriffen: „Sie ist mit einem Schirm geschlagen und als ,Immigrantin’ beschimpft worden.“ Keiner habe geholfen, nicht einmal das U-Bahn-Personal.

Moseley ist ein entschiedener Remainer, geht zu Demonstrationen und Vorträgen und hält wenig von der konservativen Regierung, die auch zwei Jahre nach dem Referendum keinen brauchbaren Plan dafür hat, wie es nach dem Austritt weitergehen soll. Aber er ist auch ein Optimist und hofft, dass es im schlimmsten Fall „zu ein paar Wochen Chaos kommt, und dann renkt sich wieder vieles ein“. Seine Partnerin ist skeptischer: „Hoffe das Beste, aber bereite dich aufs Schlimmste vor, ist meine Devise“, sagt Oehler. Ein harter Brexit ohne Austritts- und Freihandelsdeal sei durchaus möglich. Das Paar sieht sich jedenfalls in Zukunft besser in Deutschland als im Königreich aufgehoben.

Anne Graham und ihr Mann Tony gehören zu den rund 100.000 Briten, die nach Schätzung der britischen Statistikbehörde ONS heute schon in Deutschland leben. Der 51-Jährige und seine 50-jährige Frau zogen Anfang Mai in die Nähe von Stuttgart, wo Tony als Elektronikingenieur bei der Firma Dialog Semiconductor arbeitet. Er hat die deutsche Staatsangehörigkeit über seine Eltern – deutsche Juden aus Hamburg, die im Zuge des Kindertransports 1939 nach England flohen und sich dort einbürgerten. Für das Paar war der Brexit der ausschlaggebende Grund für ihre Auswanderung.

„Die EU hat Krieg in Europa verhindert“, meint Anne Graham, „und den Leuten geht es besser, wenn alle zusammenarbeiten. Ich bin entsetzt über den Brexit.“ Tony Graham sieht vor allem wirtschaftliche Konsequenzen auf die Briten zukommen. „Vom ökonomischen Standpunkt aus könnte es ein Desaster werden. Wir könnten wie Griechenland oder Portugal enden.“ Ihr Sohn und ihre Tochter, die beide noch in Großbritannien studieren, haben die Auswanderung der Eltern unterstützt.

 Anne Graham mit Mann

Anne Graham mit Mann

Foto: Anne Graham
 Auch Magdalena Williams will nach Deutschland kommen.

Auch Magdalena Williams will nach Deutschland kommen.

Foto: Jochen Wittmann
 Silke Oehler und Mike Moseley ziehen im November ins Ruhrgebiet.

Silke Oehler und Mike Moseley ziehen im November ins Ruhrgebiet.

Foto: Jochen Wittmann

Jetzt konzentrieren sich die Grahams darauf, Deutsch zu lernen. Und sie engagieren sich in der Gruppe „British in Germany“, die für die Bürgerrechte der „Expats“ streitet, wie im Ausland lebende Briten heißen. Denn immerhin sind eine ganze Reihe von Fragen offen: Wie geht es mit der Freizügigkeit weiter? Werden Berufsqualifikationen anerkannt? Dürfen Familienangehörige nachziehen? Und was ist mit dem Aufenthaltsrecht, wenn man mal eine Zeit lang das Land verlässt? Bisher gibt es nur wohlwollende Zusicherungen, aber keine rechtssicheren Garantien. Auch wenn sie in Deutschland leben, sind die Expats den Folgen des Brexit noch nicht entkommen.

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