Der Fall Timoschenko und die Folgen Boykott-Debatte macht Ukraine nervös

Düsseldorf · Die Regierung der Ukraine gerät durch den Fall Timoschenko zusehends ins Abseits. Boykott-Forderungen machen die Runde. Ein Fußballfest in einem vermeintlichen Folterstaat – das ist für viele eine unerträgliche Vorstellung. Der Druck wächst, in der Regierung in Kiew macht sich Unruhe breit.

 Julia Timoschenko sitzt in dieser Haftanstalt in Charkow ein - nur wenige Kilometer vom Stadion, in dem auch die deutsche Nationalmannschaft auflaufen soll.

Julia Timoschenko sitzt in dieser Haftanstalt in Charkow ein - nur wenige Kilometer vom Stadion, in dem auch die deutsche Nationalmannschaft auflaufen soll.

Foto: dpa, Andrew Kravchenko

Die Regierung der Ukraine gerät durch den Fall Timoschenko zusehends ins Abseits. Boykott-Forderungen machen die Runde. Ein Fußballfest in einem vermeintlichen Folterstaat — das ist für viele eine unerträgliche Vorstellung. Der Druck wächst, in der Regierung in Kiew macht sich Unruhe breit.

Der Fall Julia Timoschenko sorgt in der deutschen Politik zunehmend für Verärgerung. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel soll nicht gut auf Präsident Janukowitsch zu sprechen sein. Ob sie das Land während der Europameisterschaft besuchen wird, erscheint derzeit fraglich. Bilder auf der Ehrentribüne an der Seite eines Staatschefs, der mit Rachejustiz politische Gegner kaltstellt und Menschenrechte ignoriert - das mag man sich in Berlin derzeit lieber niemand vorstellen.

Die Grünen forderten die Bundesregierung zu verstärktem Protest gegen die ukrainische Regierung auf. Die Absage von Bundespräsident Gauck sei "richtig und nachvollziehbar", sagte der menschenrechtspolitische Sprecher der Grünen, Volker Beck, der "Neuen Osnabrücker Zeitung".

Merkel soll "Farbe bekennen"

Es dürfe aber nicht an Gauck "kleben bleiben, gegen die autoritären Machenschaften (des ukrainischen Präsidenten Viktor) Janukowitschs zu protestieren". Beck forderte, nun solle auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) Farbe bekennen "und bei einem Besuch in der Ukraine Julia Timoschenko im Gefängnis besuchen und sich nicht neben Janukowitsch auf eine EM-Tribüne setzen".

Ruprecht Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, brachte am Freitag ebenfalls einen Boykott durch Spitzenpolitiker ins Spiel. Sollte sich die Lage der inhaftierten Oppositionsführerin Julia Timoschenko nicht verbessern, müsse jeder überlegen, ob er eine Einladung annehme und so tue als wäre nichts, sagte der CDU-Politiker Ruprecht Polenz am Freitag in der ARD. "Ich glaube schon, dass sehr viele sagen werden, unter den Umständen werden wir eben zu Hause bleiben."

Eine Bühne für Kiew

Die Boykott-Forderungen nehmen somit Gestalt an. Das Regime in Kiew soll keine Gelegenheit haben, die EM als politische Bühne für Selbstinszenierungen zu benutzen. In Zeitungskommentaren wird konsequent auch schon für Minister und Bundestagsabgeordnete ein Stadion-Boykott gefordert.

Dabei ist Timoschenko offenbar nur die Spitze des Eisbergs. Die Menschenrechtslage in dem Land hat sich in den vergangenen Jahren drastisch verschlechtert. Nach der Orangenen Revolution 2004 schien es noch so, als mache die Ukraine gewaltige Fortschritte und sei fortschrittlicher als andere postsowjetische Republiken. Doch mit der Amtsübernahme des heutigen Präsidenten Viktor Janukowitsch im Februar 2010 kam nach einstimmiger Ansicht von Menschenrechtsorganisationen die Wende.

Berüchtigter Geheimdienst

Folter und Misshandlungen in Polizeigewahrsam und in Gefängnissen stünden an der Tagesordnung, kritisiert Amnesty International in seinem Report 2011. Die medizinische Versorgung von Häftlingen ist nicht ausreichend. Der Bericht nennt mehrere Fälle, in denen Insassen wegen unterlassener medizinischer Hilfeleistung starben. Gewerkschafter und Bürgerrechtler würden eingeschüchtert. Dazu gehören nächtliche Drohanrufe, Überfälle von Unbekannten und Besuche durch Vertreter des Geheimdienstes SBU.

Durch die populäre Politikerin Timoschenko gerät diese prekäre Situation nun in den Brennpunkt der Politik. Vor allem in Deutschland: Am Freitagmorgen wurden neue Forderungen gegenüber der Regierung in Kiew laut. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning (FDP), drängt ultimativ auf eine Lösung - noch vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft. Die erkrankte 51-jährige Oppositionsführerin sollte aus humanitären Gründen sofort freigelassen werden, sagte er "Handelsblatt Online".

Tiefe Enttäuschung über Ukraine

Löning forderte von den ukrainischen Behörden, "dass Frau Timoschenko und den anderen Betroffenen unverzüglich die medizinische Versorgung zukommt, die sie benötigen". Von einem generellen Boykott der Fußball-Europameisterschaft hält er jedoch wenig.

Die EM sei zu einem Zeitpunkt an die Ukraine vergeben worden, als die positiven Entwicklungen in dem Land alle hoffnungsvoll gestimmt hätten. "Leider sehen wir in den letzten Jahren eine Rückwärtsbewegung, die uns sehr enttäuscht", sagte Löning. Jedoch müsse man "nun mit der Vergabeentscheidung leben". Das internationale Augenmerk dürfe daher nicht nur auf den Fußball gerichtet werden, sondern vor allem auch auf die menschenrechtlichen Probleme.

Absage an Platini

Am Donnerstag hatte das Büro der EU-Kommissarin Viviane Reding bestätigt, dass die für Justiz und Grundrechte zuständige Kommissarin ihren Besuch beim ersten Spiel der Fußball-EM in der Ukraine abgesagt habe. Darüber habe Reding Uefa-Präsident Michel Platini in einem Brief informiert. Laut "Bild"-Zeitung begründet die Kommissarin ihre Absage mit den Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine und den Umgang des Regimes mit Timoschenko.

Auch der für den Sport zuständige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) äußerte Kritik an der Ukraine. Er habe ein Problem damit, als Sportminister bei Fußballspielen während der EM zu sitzen "und zu wissen, da wird Kilometer entfernt jemand nicht nach den Regeln, die wir uns gemeinsam gegeben haben in der zivilisierten Staatenwelt, behandelt". Zudem forderte Friedrich am Donnerstag in Luxemburg eine ordentliche Krankenbehandlung für Timoschenko.

Steinmeier erwartet eine Reaktion

SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier erhofft sich von der Absage des Ukraine-Besuchs von Bundespräsident Joachim Gauck positive Folgen für Timoschenko. "Die Absage eines verabredeten Besuchs durch das deutsche Staatsoberhaupt ist keine Kleinigkeit, und ich bin mir sicher, dass wir damit in der Ukraine Diskussionen auslösen, die hoffentlich das Ergebnis haben, dass Julia Timoschenko bessere Behandlungsmöglichkeiten bekommt", sagte Steinmeier dem "Hamburger Abendblatt" (Freitag).

Schon am Freitagmorgen waren in Kiew Anzeichen zu registrieren, dass Steinmeier mit seinen Ansichten recht behalten könnte. So übte der Wirtschaftsminister des Landes, Petro Poroschenko, offene Kritik an der eigenen Regierung. Er fürchte wegen des Umgangs mit Timoschenko zwar keine Auswirkung auf Investitionen, aber auf die Wahrnehmung seines Landes, sagte er dem "Handelsblatt" vom Freitag laut einer Vorabmitteilung. "Wir müssen einen Weg finden, diesen negativen Fall zu lösen", zitierte ihn die Zeitung. Den Prozess gegen Timoschenko hält Poroschenko demnach für "inakzeptabel".

Zweifel an Janukowitschs Aufrichtigkeit

Timoschenko, die seit Monaten unter starken Rückenschmerzen leidet, war am Freitag nach Angaben ihres Anwalts aus Protest gegen ihre Haftbedingungen in einen Hungerstreik getreten. Die 51-Jährige wirft den Behörden vor, sie unter Gewaltanwendung vorübergehend aus ihrem Gefängnis in Charkow in ein Krankenhaus verlegt zu haben. Die Ex-Regierungschefin verbüßt eine siebenjährige Haftstrafe wegen Amtsmissbrauchs.

Auch Präsident Janukowitsch reagierte und ordnete noch am Donnerstagabend Ermittlungen an. Beobachter vor Ort äußerten jedoch Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Ankündigung, da die Vorwürfe der Oppositionspolitikerin unter Berufung auf eine offizielle Untersuchung in dieser Woche bereits zurückgewiesen worden waren. Timoschenko wurde nach Angaben ihres Anwalts von Gefängniswärtern geschlagen und gegen ihren Willen in ein Krankenhaus verlegt.

Die EM wird vom 8. Juni bis 1. Juli gemeinsam von Polen und der Ukraine ausgerichtet. Das Eröffnungsspiel findet am 8. Juni in Warschau statt, das erste Spiel auf ukrainischem Boden einen Tag später in Charkow. Dort sitzt Timoschenko in Haft. Sie gilt als Opfer politischer Rachejustiz im Auftrag des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch. 2004 hatte sie die gegen Janukowitsch gerichtete orangene Revolution angeführt.

(pst)
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