Verteidigungsminister Boris Pistorius „Ich mag das Wort ,kriegstüchtig’ selbst nicht“

Interview | Berlin · Verteidigungsminister Boris Pistorius über Ängste vor einer Eskalation mit Russland, fehlende Milliarden im Wehretat, mehr junge Soldaten für die Bundeswehr – und die Frage, warum viele ihn für einen geeigneten SPD-Kanzlerkandidaten halten.

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Das ist Boris Pistorius

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Foto: dpa/Moritz Frankenberg

Herr Minister, Deutschland wappnet sich, man könnte auch sagen: Deutschland rüstet auf. Verstehen Sie die Befürchtung in Teilen der Bevölkerung, dass die geplante Stationierung amerikanischer Langstreckenwaffen eine militärische Eskalation mit Russland befeuern könnte?

Pistorius Die Welt ist unsicherer geworden als noch vor fünf oder zehn Jahren. Wir müssen uns schützen, so gut es geht. Ich verstehe die Sorge der Menschen vor einer Eskalation. Aber wir müssen realisieren, dass sich die Rahmenbedingungen völlig verändert haben. An der Ostflanke der Nato steht wieder ein Aggressor. Wir haben es wieder mit einer Bedrohung in Europa zu tun, und mit der müssen wir umgehen. Wir müssen uns als Nation, aber auch im Bündnis darauf vorbereiten.

An welchen Standorten in Deutschland sollen die Marschflugkörper und Überschallraketen stationiert werden?

Pistorius Darüber ist noch nicht entschieden. Die USA, die diese Waffen in Deutschland stationieren werden, sind selbst noch in der Vorbereitung. Ich möchte aber klarstellen: Es handelt sich um konventionelle Waffensysteme. Wir tun alles dafür, dass eben keine Eskalation eintritt. Wenn allen klar ist, dass Deutschland und die Nato in der Lage sind, sich erfolgreich zu verteidigen, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass wir angegriffen werden.

Früher wäre der Bonner Hofgarten voll gewesen bei Demonstrationen gegen die Raketenstationierung!

Pistorius Die Zeit ist nicht vergleichbar. In der Hochzeit der Friedensbewegung damals in Bonn ging es um atomar bestückte Pershings, nicht um konventionelle Raketen. Wir mussten uns 35 Jahre nicht mehr mit Bewaffnung beschäftigen. Eine ganze Generation kennt eine solche Bedrohung gar nicht. Was die USA ab 2026 in Deutschland tun werden, ist nichts anderes, als der russischen Bedrohung durch die Stationierung der Iskander in Kaliningrad etwas entgegenzusetzen. Dann funktioniert Abschreckung wieder.

Haben Sie wie Kanzler Olaf Scholz damals gegen den Nato-Doppelbeschluss demonstriert?

Pistorius Nein, ich war damit aber in der SPD wohl auch in der Minderheit.

Wäre ein künftiger US-Präsident Donald Trump in der Lage, die geplante Stationierung der Langstreckenwaffen zurückzunehmen?

Pistorius Ein US-Präsident kann die Zusage einer Stationierung amerikanischer Waffen in einem bestimmten Teil der Welt natürlich zurücknehmen. Das sind seine operativen Entscheidungen.

Wird Deutschland Überschallraketen selbst entwickeln?

Pistorius Wir haben beim Nato-Gipfel in Washington mit Polen, Frankreich und Italien – andere Länder könnten noch dazu kommen – eine Absichtserklärung unterschrieben, in der wir verabreden, gemeinsam weitreichende Präzisionswaffen selbst zu entwickeln, zu produzieren und zu beschaffen. Die USA helfen uns mit der Stationierung ihrer Systeme, den Zeitraum zu überbrücken, bis wir solcher Waffensysteme selbst haben. Unabhängig davon, wer US-Präsident wird: Wir müssen uns als europäischer Pfeiler der Nato besser aufstellen.

Lässt sich Putin von diesen Langstreckenraketen abschrecken? Ist er rational oder mehr Pokerspieler?

Pistorius Ich habe nicht die Absicht, die Psyche des Despoten im Kreml zu analysieren. Wir in Europa müssen weniger auf Putin schauen, sondern darauf, wie wir uns schützen. Je klarer und kompromissloser wir abschrecken, desto höher das Risiko für Putin oder jeden anderen potenziellen Aggressor, sich auf ein solches militärisches Wagnis einzulassen.

Trauen Sie Putin einen Angriff auf das Baltikum zu? Das wäre ein Angriff auf Nato-Gebiet.

Pistorius Er bedroht das Baltikum schon heute. Er versucht über Nacht, Grenzen in der Ostsee oder an den Grenzflüssen zu verschieben, und wenn es nur ein paar Meter sind. Das sind Provokationen. Putin hat auf Kriegswirtschaft umgestellt, und er erhöht die Produktion von Waffen, teilweise auf Vorrat, was zeigt, dass er offenbar noch mehr vorhat. Wir verfahren nach dem Prinzip: Auf das Beste hoffen, auf das Schlimmste vorbereitet sein. Wir werden nicht eskalieren, gleichzeitig müssen wir abschrecken.

Sie brauchen für Abschreckung viel Geld. Reicht dafür das Zwei-Prozent-Ziel der Nato oder müssen es drei Prozent oder noch mehr sein?

Pistorius Je größer die nationale Wirtschaftsleistung, desto höher die Summe, die sich aus dem Zwei-Prozent-Ziel der Nato errechnet. Vielleicht erkennen wir eines Tages, dass die zwei Prozent nicht reichen. Fast noch wichtiger aber ist, dass die Finanzplanung verlässlich ist, dass wir eben wissen, was wir wann bestellen können.

Sie wollten im nächsten Haushalt 6,5 Milliarden Euro mehr für den Verteidigungsetat, haben aber nur 1,3 Milliarden Euro oben drauf bekommen. Ist diese Lücke nicht mehr als „ärgerlich“, wie Sie es formuliert haben?

Pistorius Das Wort „ärgerlich“ hat schon seine Wirkung entfaltet. Als Teil dieser Bundesregierung geht es mir nicht darum zu provozieren, sondern deutlich zu machen, was ich für die Truppe und die Sicherheit des Landes erreichen kann.

Haben Sie denn zugestimmt, dass der Verteidigungsetat dann doch nicht so stark steigt wie von Ihnen gewünscht?

Pistorius Es gab mehrere Runden, an denen auch ich beteiligt war. Insofern stimmt es, dass ich ein Stück weit eingebunden war. Aber das waren Runden, in denen ich immer meine Bedenken und die Anforderungen, die ich sehe, formuliert habe. Leider wurde mir in diesen Punkten nicht gefolgt. Für die Bundeswehr bedeutet das in den kommenden Jahren Fähigkeitslücken, die wir erst später schließen können. Dass ich damit nicht zufrieden bin, kann man sich ausrechnen.

Es gibt die Zusage, dass der Haushalt ab 2028 auf 80 Milliarden Euro anwachsen wird, wenn das Sondervermögen weg ist. Reicht das?

Pistorius Damit bin ich zufrieden, auch wenn selbst 80 Milliarden Euro noch knapp bemessen sein werden. Meine Forderung nach rund 6,5 Milliarden Euro mehr im kommenden Jahr war nicht aus der Luft gegriffen. Ich habe das Ziel nicht aufgegeben, dass wir im nun anstehenden parlamentarischen Verfahren noch mehr Mittel dazu bekommen. Bei meinen Zahlen bleibe ich, damit die Soldatinnen und Soldaten den Anforderungen der kommenden Jahre im Interesse unser aller Sicherheit gerecht werden können.

Worauf müsste die Truppe sonst verzichten?

Pistorius Der Generalinspekteur und ich haben eine ganz klare Priorität: Einsatzbereitschaft, Übungsfähigkeit und der laufende Betrieb der Truppe dürfen nicht beeinträchtigt werden. Einzelne Projekte, die ich jetzt nicht öffentlich nennen möchte, könnten wir entweder nicht so schnell umsetzen wie es nötig wäre oder wir müssten nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten suchen. Abgesehen davon habe ich das Vorgehen bei Planung und Beschaffung geändert. Früher haben wir geplant und beschafft, was wir uns aufgrund knapper Kassen gerade noch leisten konnten und wo klar war, wie viel Geld bereits bewilligt ist. Jetzt machen wir es umgekehrt: Wir prüfen, was wir dringend brauchen und tun alles dafür, dass wir das Geld dafür kriegen. So haben wir es beispielsweise bei der Bestellung von 105 neuen Leopard-Panzern gemacht, ebenso bei den vier zusätzlichen „Patriot“-Systemen oder den zwei Fregatten 126.

Sie haben sich in Schweden das dortige Wehrpflichtmodell angeschaut und eigene Pläne vorgestellt. Aber wie bekommt man junge Menschen nun dazu, Wehrdienst bei der Bundeswehr zu leisten?

Pistorius Dazu möchte ich etwas ausholen. Erstens sind die Schweden und die baltischen Staaten 2014 mit der russischen Annexion der Krim aufgewacht. Sie haben den Wehrdienst und den Schutz für die Zivilbevölkerung für den Fall eines Verteidigungskrieges komplett neu aufgestellt. Jetzt sind sie vorbereitet. In der Gesellschaft dort hat man längst verstanden, dass wir in einer anderen Welt als vor 2014 leben. Dort dominiert weniger die Angst und mehr die Bereitschaft aller, einen Teil zur Gesamtverteidigung beizutragen. Wir Deutschen und unsere westeuropäischen Nachbarn haben uns damals noch einmal – mit Verlaub – umgedreht und bedauerlicherweise kaum etwas geändert. Erst mit dem russischen Einmarsch 2022 haben wir es auch verstanden, die Zeitenwende ausgerufen und müssen uns jetzt beeilen.

Und zweitens?

Pistorius Zweitens möchte ich noch einmal erklären, warum ich mich für den neuen Wehrdienst einsetze. Wir benötigen mehr junge Freiwillige, weil wir mehr Reservisten benötigen. Das ist zunächst eine Maßnahme zur Abschreckung. Wir zeigen nach außen, dass wir uns auch auf einen Verteidigungsfall vorbereiten, um ihn möglichst zu verhindern. Wer zum Beispiel eine sechsmonatige Grundausbildung absolviert, wäre im V-Fall zwar nicht als Panzerfahrer geeignet. Er könnte aber innerhalb Deutschlands dafür sorgen, dass die Verlegung von Truppen funktioniert – im Rahmen des sogenannten Operationsplans Deutschland. Wer hingegen länger als sechs Monate Grundwehrdienst leistet, kann sich zusätzlich qualifizieren. Im V-Fall könnte er auch zur Verteidigung des Landes eingesetzt werden. Kein Land der Welt kann sich nur mit aktiven Berufssoldaten verteidigen. Alle greifen im Verteidigungsfall auf ihre Reserve an ehemaligen Soldaten oder früheren Wehrdienstleistenden zurück. Heute haben wir 60.000 Männer und Frauen in der Reserve, wir benötigen aber mindestens 260.000, um uns ordentlich verteidigen zu können. Drittens bin ich optimistisch, dass wir erst einmal ohne Verpflichtungen auskommen.

Wie das?

Pistorius Unsere Berechnungen aus Umfragen und anderen Erhebungen zeigen, dass wir den ersten Aufwuchs der Truppe von zusätzlich 5000 Kräften pro Jahr durch Freiwillige schaffen können. Und mehr Kapazitäten haben wir derzeit gar nicht, weil es zu wenige Ausbilder und Kasernen gibt. Den Fragebogen an alle jungen Männer und Frauen mache ich, damit wir überhaupt wissen, wen wir einziehen könnten.

Wann wird es die ersten Fragebögen geben?

Pistorius Im Herbst soll der Gesetzentwurf fertig sein, dann folgen die Befassungen im parlamentarischen Verfahren und im Bundesrat. Ich rechne mit einem Inkrafttreten des Gesetzes noch vor der Sommerpause 2025, vielleicht sogar noch im ersten Quartal. Die Bögen müssen dann nur Männer verpflichtend ausfüllen, weil sich die Wehrpflicht, die nur ausgesetzt ist, im Grundgesetz allein auf Männer bezieht.

Wann sollen Frauen dazukommen?

Pistorius Ich sehe nicht, dass wir in dieser Legislaturperiode noch eine Grundgesetzänderung hinbekommen, auch wenn die Union mitmachen würde.

Warum eigentlich nicht?

Pistorius Wir alle wissen, wie lange sich Debatten über Grundgesetzänderungen hinziehen. Man kommt mit einer Idee und plötzlich hat man einen bunten Strauß an Wünschen von anderen in der Hand, was noch alles bei einer Grundgesetzänderung mitgeregelt werden muss. Dann verhandelt man über Monate und verliert Zeit. Das zeigt die Erfahrung. Ich brauche aber einen schnellen Einstieg in die Wehrerfassung, weil sich die Bedrohungslage in Europa massiv verschärft hat. Deswegen beginnen wir mit dem verpflichtenden Ausfüllen der Fragebögen für Männer. Wir gehen davon aus, dass sich auch viele Frauen freiwillig bei uns melden und Interesse zeigen werden.

Können Sie verstehen, dass die Bedrohung gerade bei jungen Menschen Ängste auslöst und sie das Land vielleicht gar nicht unter Einsatz ihres Lebens mit der Waffe verteidigen möchten?

Pistorius Natürlich kann ich die Ängste verstehen und auch, wenn sich Menschen dem Wehrdienst verweigern, wie es unser Grundgesetz ermöglicht. Meine Generation hat mitten im Kalten Krieg Wehrdienst geleistet und musste auch damit rechnen, dass ein bewaffneter Konflikt ausbrechen könnte. Wir haben damals gelernt, mit der Angst umzugehen. Es gibt auch immer mehr Menschen, die sich freiwillig melden, gerade weil sie für ihr Heimatland Dienst leisten wollen. Das bewundere ich sehr.

Können Sie das beziffern?

Pistorius Im Vergleich zum Vorjahr haben sich zum Stichtag 8. Juli 15 Prozent mehr Menschen bei uns für den militärischen Dienst beworben.

Ihnen wird vorgeworfen, mit Ihrer Mahnung bald „kriegstüchtig“ sein zu müssen, Ängste vor einem Krieg erst heraufzubeschwören. Haben Sie den Bogen nicht überspannt?

Pistorius Ich mag das Wort „kriegstüchtig“ selbst nicht. Aber es ist nun mal die Wahrheit, dass wir uns am besten schützen, wenn wir in der Lage sind, einen möglichen Angriffskrieg abwehren zu können. Derjenige, der das Problem beim Namen nennt, ist nicht der Verursacher des Problems. Was wäre die Alternative? Dinge verharmlosen, Menschen in falscher Sicherheit wiegen und dann unvorbereitet in Gefahr zu bringen? Das kommt für mich nicht infrage.

Jüngst war Oppositionschef Friedrich Merz (CDU) im Eurofighter zu sehen. Was halten Sie davon?

Pistorius Wir haben grundsätzlich ein großes Interesse daran, dass Bundeswehr und Politik Nähe zueinander zeigen. Das war viele Jahre leider nicht so. Ich bin froh, dass es wieder ein zunehmendes Interesse an der Bundeswehr und ihrer Leistungsfähigkeit gibt. Und es ist gut, dass bei Besuchen bei der Truppe gesehen wird, wo es Defizite und Ausbaubedarf gibt. Wer einen Eurofighterflug macht, entscheidet am Ende die Luftwaffe, nicht ich.

Aber es gab Kritik an den Kosten.

Pistorius Es sind, nach Angabe der Luftwaffe, keine zusätzlichen Kosten entstanden. Der Eurofighter wäre ohnehin zu einem Trainingsflug abgehoben. Die Ausbilder müssen Flugstunden auch allein als Kampfpiloten absolvieren. Wäre Friedrich Merz also nicht mitgeflogen, wäre der hintere Sitz leer geblieben.

Kann Ihre Politik dazu beitragen, die Umfragen noch zu drehen und die SPD im Bundestagswahlkampf vor die Union zu bringen?

Pistorius Ja, daran glaube ich fest. Umfragen sind extrem volatil geworden. Der SPD ist 2021 trotz schlechter Umfragen bis kurz vor der Wahl doch noch der Sieg gelungen. Das kann wieder passieren, und dafür kämpfe ich.

Mit Olaf Scholz als Kanzlerkandidat?

Pistorius Ja, daran habe ich nie einen Zweifel gelassen.

Aber aus Sicht einiger Ihrer Parteifreunde zu lange mit der Unterstützung für Scholz gezögert, weil es Ihnen vielleicht geschmeichelt hat?

Pistorius Ich habe mich sehr schnell für Olaf Scholz ausgesprochen und dabei bleibt es auch.

Warum spricht man Ihnen die Fähigkeiten zu, ein guter Kanzler zu sein?

Pistorius Keine Ahnung.

Wenn man der Argumentation der Außenministerin folgt, die mit Verweis auf ihr Amt keine Zeit für eine Kanzlerkandidatur haben will, könnte der Kanzler das auch nicht, oder?

Pistorius Ich war überrascht von der Verzichtserklärung. Ich habe die Vorgänge bei den Grünen aber nicht zu bewerten.

Wollen Sie für den Bundestag kandidieren?

Pistorius Das habe ich noch nicht entschieden.

Falls ja, stünde der Wahlkreis denn fest?

Pistorius Nein.

Wann wollen Sie die Entscheidung treffen?

Pistorius Nach der Sommerpause werde ich die Entscheidung treffen und bekannt geben.