Bundestagswahlrecht "Bitte, bloß keine Zweitstimmen"

Karlsruhe (RPO). Die Regelungen für die Sitzverteilung bei der Bundestagswahl sind laut Bundesverfassungsgericht teilweise verfassungswidrig. Mit dem am Donnerstag in Karlsruhe verkündeten Urteil hatte erstmals in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts eine Wahlprüfungsbeschwerde von Bürgern Erfolg. Die Berechnung der Überhangmandate muss bis Juni 2011 neu geregelt werden.

Das sind Überhangmandate
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Foto: ddp

"Bitte wählen Sie unseren Wahlkreiskandidaten, aber nicht unsere Partei. Wir bekommen sonst weniger Abgeordnete." Ganz ausschließen kann man wohl nicht mehr, dass es im Bundestagswahlkampf 2009 mancherorts derartig ungewöhnliche Aussagen von Parteien geben wird. Das Bundesverfassungsgericht hat es zwar am Donnerstag für grundgesetzwidrig erklärt, dass Zweitstimmen den Parteien im Fall von Überhangmandaten unter Umständen schaden statt nützen können. Die Karlsruher Richter lassen dem Gesetzgeber aber bis 2011 Zeit für eine Neuregelung.

Die Bundestagswahl im Herbst nächsten Jahres darf also noch ein letztes Mal nach dem alten, teilweise verfassungswidrigen Modus über die Bühne gehen. Und das lassen sich die Betroffenen natürlich nicht zweimal sagen. "Ich halte nichts von Schnellschüssen", sagte der Vorsitzende des Wahlprüfungsausschusses im Deutschen Bundestag, schon kurz nach der Urteilsverkündung in Karlsruhe und kündigt Änderungen erst nach der nächsten Wahl an.

Schließlich handelt es sich bei der Sitzverteilung im Parlament um äußerst komplizierte Regelungen, "und da gehen Sorgfalt und Gründlichkeit vor Schnelligkeit", sagte der Heilbronner CDU-Abgeordnete, der selbst von der Regelung mit den Überhangmandaten betroffen ist: Die CDU hat bei der letzten Wahl 2005 in Baden-Württemberg drei solcher zusätzlichen Sitze errungen.

Tatsächlich ist die sowohl juristisch als auch mathematisch äußerst komplexe Regelung der Sitzverteilung im Deutschen Bundestag selbst für Eingeweihte schwer zu durchschauen. Dabei erscheint das System auf den ersten Blick ganz einfach: Das Parlament im Berliner Reichstag setzt sich aus 598 Abgeordneten zusammen, von denen 299 mit der Erststimme im Wahlkreis und weitere 299 mit der Zweitstimme über die Landeslisten der Parteien gewählt werden.

Die Crux mit den Überhangmandaten

Das ist aber nur die Theorie. In der Praxis vergrößert sich der Bundestag regelmäßig um die Überhangmandate, allein 16 waren es bei der letzten Wahl. Sie fallen an, wenn Parteien in einem Bundesland mehr Direktmandate in den Wahlkreisen erringen, als ihnen dort nach dem eigentlich maßgeblichen Zweitstimmenergebnis insgesamt Abgeordnete zustehen.

Bei der Nachwahl in einem Dresdner Wahlkreis zwei Wochen nach der eigentlichen Bundestagswahl 2005 wurde das paradoxe Phänomen des negativen Stimmgewichts erstmals auch in der Öffentlichkeit bekannt: Wenn die CDU das Direktmandat gewinnt, aber bei den Zweitstimmen schlecht abschneidet, hätte sie in Sachsen einen Wahlkreisabgeordneten mehr, als ihr eigentlich insgesamt an Abgeordneten zusteht. Damit wurde im Wahlkampf gezielt geworben, und tatsächlich gewann die CDU zwar den Wahlkreis, erhielt aber viel weniger Zweit- als Erststimmen. Die Folge war tatsächlich ein weiteres Überhangmandat.

Kläger warnt

Dass die nächste Bundestagswahl trotzdem noch einmal auf dieser Grundlage stattfinden soll, will dem Bremer Mobilfunktechniker Wilko Zicht nicht einleuchten, der zusammen mit einem weiteren Kläger aus Duisburg die Karlsruher Entscheidung erstritten hat. Mit dem Urteil sei das negative Stimmgewicht je erst richtig bekannt geworden. Wenn es die Parteien 2009 noch einmal gezielt einsetzten, könne eine Rekordzahl von Überhangmandaten die Folge sein, warnt er.

Doch die Richter haben die lange Übergangsfrist bis 2011 im Urteil begründet: Der dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen zustehende Gestaltungsspielraum fordere ausreichend Zeit, um die verschiedenen Möglichkeiten einer Neuregelung und deren Auswirkungen auf das Wahlrecht angemessen zu prüfen. Auch für Anhörungen und Abstimmungen mit den Parteien und ihren Landesverbänden müsse genügend Raum sein.

Kritik an der langen Frist darf man indes nicht an den Vorsitzenden des Zweiten Senats richten: Es war zwar das erste Urteil, das der neue Gerichtsvizepräsident Ulrich Voßkuhle in Karlsruhe verkündete. Doch er selbst hat daran noch gar nicht mitgewirkt. Dafür aber sein Vorgänger Winfried Hassemer, und der "ist aus dem Amt ausgeschieden und daher an der Unterschrift gehindert", wie auf der letzten Seite der Entscheidung vermerkt ist.

(ap)
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