Holocaust-Gedenken im Bundestag Von Scham, Schuld und Anstand

Berlin · Bewegend und bedrückend, ergreifend und erschütternd nennen Abgeordnete die zentrale Rede des Holocaust-Überlebenden Saul Friedländer im Bundestag. Er beginnt mit den öffentlich angekündigten Verbrechen der Nazis und endet mit dem Anstand eines Deutschen.

 Der Holocaust-Überlebende und Historiker Saul Friedländer im Bundestag, fotografiert durch die Scheibe der Besuchertribüne.

Der Holocaust-Überlebende und Historiker Saul Friedländer im Bundestag, fotografiert durch die Scheibe der Besuchertribüne.

Foto: AP/Markus Schreiber

Zwei Violinen, eine Viola und ein Cello durchkreuzen an diesem Morgen im alten Reichstagsgebäude die Pläne der Nazis. Das Prager Bennewitz-Streichquartett spielt Stücke, die die Nationalsozialisten auf den Index setzten und deren Komponisten sie bald darauf ermordeten. Ihre Namen: Viktor Ullmann und Erwin Schulhoff. „Auch diese Namen wollten die Nationalsozialisten tilgen“, erklärt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Das ihnen widerfahrene Unrecht könne heute nicht ungeschehen gemacht werden. „Aber wir können dafür sorgen, dass ihr Schicksal in Erinnerung bleibt – und dass ihre Musik weiterklingt“, ruft Schäuble.

Und sie klingt weiter. Die vier Streicher sitzen links vom Rednerpult, ganz nah bei den Repräsentanten der fünf Verfassungsorgane, Bundesratspräsident Daniel Günther, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit seiner Frau Elke Büdenbender, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesverfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle. Auch nah dran an der eindringlichen Musik mit ihrer ungewöhnlichen Kraft: Die AfD-Fraktionschefs Alice Weidel und Alexander Gauland. Wie wird sich die AfD im Bundestag verhalten, nachdem ihre Parteifreunde im bayerischen Landtag einen Eklat inszenierten und beim Holocaust-Gedenken den Plenarsaal verließen? Dort protestierte die AfD gegen Charlotte Knobloch, die Präsidentin der jüdischen Kultusgemeinde in München. Seitdem hat die 86-Jährige verstärkt mit Morddrohungen zu leben.

Im Bundestag vermeidet die AfD alles, was einen neuen Eklat auslösen könnte. Ihre Abgeordneten klatschen, wenn alle klatschen, sie stehen am Ende auf, als sich alle aus Respekt erheben. Und sie provozieren dieses Mal auch nicht mit Zwischenrufen. So wird es ein würdiges Gedenken. Und zwar genau an dem Ort, an dem die Nazis in der Endphase der Weimarer Republik aus ihrem Rassenwahn und Antisemitismus keinen Hehl machten, bis das Parlamentsgebäude in Flammen aufging und es der Zerstörung der parlamentarischen Demokratie auch optisch folgte. An diesem Donnerstag erinnert der Bundestag an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 74 Jahren. Und der israelische Historiker und  Holocaust-Überlebende Saul Friedländer an einen anderen Vorgang vor 80 Jahren, als Adolf Hitler vor dem Reichstag die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ prophezeite.

Nicht weniger als vier Mal habe Hitler diese Prophezeiung öffentlich wiederholt, eine Tageszeitung im Februar 1942 die Überschrift „Der Jude wird ausgerottet“ gebracht. Spätestens 1943 hätten Millionen Deutsche gewusst, dass die Juden im Osten systematisch ermordet wurden, erläutert Friedländer anhand verschiedenster Beispiele. Er schildert weitere Szenen des Völkermordes, wie Täter und Opfer ihn erlebten, und wechselt dann die Perspektive. Zu dem Jungen, der am 8. August 1942 in Frankreich in ein Kinderheim kommt. An einem herrlichen Sommertag. Zu Sportwettkämpfen, Liedern und Abendbrot. Und zu der folgenden Nacht, in der alle Kinder aus dem Schlaf gerissen werden, antreten müssen und alle ab zehn Jahren auf Lastwagen zu steigen haben. Saul Friedländer ist da neun Jahre und neun Monate alt. Drei Monate lassen ihn überleben. Und weil er unter falschem Namen und falscher Religion lebte. Seine Eltern wurden an der Schweizer Grenze abgefangen, um drei Uhr nachts. Nach dreitägigem Zugtransport starben sie in den Gaskammern von Auschwitz.

Friedländer schildert die Sehnsucht nach einer Heimat, die er – bei aller Kritik an der dortigen Regierung – in Israel gefunden habe. Und sagt ganz bewusst vom Rednerpult des Bundestages: „Das Existenzrecht Israels zu verteidigen ist eine grundsätzliche moralische Verpflichtung.“ Und dann teilt er nach beiden Seiten aus. Dies müsse in einer Zeit wieder betont werden, in der sowohl von der extremen Rechten wie der extremen Linken Israels Existenz infrage gestellt werde „und der Antisemitismus in seinem traditionellen wie in seinem neuen Gewand wieder unübersehbar zunimmt“.

Das hat zuvor auch Schäuble in den Mittelpunkt gestellt, indem er sowohl den alten wie den „neu zugewanderten“ Antisemitismus als „inakzeptabel“ bezeichnete, mit der Betonung „erst recht in Deutschland“. Es sei beschämend, dass Juden in Deutschland wieder mit dem Gedanken spielten auszuwandern, weil sie sich nicht sicher fühlten. Scham allein reiche aber nicht: „Es braucht neben der Härte der Gesetze vor allem im Alltag unsere Gegenwehr“, fordert der Bundestagspräsident.

Bevor Friedländer dafür ein Beispiel bringt, attackiert er die Linken, die Israels Politik in einer Heftigkeit attackierten, die schlicht absurd sei und damit den Beigeschmack eines „nur dürftig verhüllten Antisemitismus“ habe. Antisemitismus sei nur eine der Geißeln, von denen jetzt eine Nation nach der anderen schleichend befallen werde. Friedländer warnt auch vor Fremdenhass, den  Verlockungen autoritärer Herrschaftspraxis und sich immer weiter verschärfendem Nationalismus.

Sein letztes Wort gilt einem deutschen Vorbild, gilt Hans von Dohnanyi, einem Abwehroffizier, der Juden aus Berlin half, in die Schweiz zu fliehen, deswegen verhaftet und zum Tode verurteilt wurde. Kurz vor der Hinrichtung antwortete er auf die Frage, was ihn zum Widerstand bewogen habe, mit einem Satz, der „für alle Zeiten und an jedem Ort seine Gültigkeit habe“, betont Friedländer und zitiert dann als letzte Worte auch seiner Rede: „Es war einfach der zwangsläufige Gang eines anständigen Menschen.“

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