Kolumne: Berliner Republik Europa als Streichelzoo

Berlin · Malerische Orte wie Wengen im Berner Oberland sind die Freilichtmuseen Europas - aber sie sterben langsam aus. Dagegen wird politisch wenig getan. Im Gegenteil: Die Einzelteile des Systems verfallen in Egoismus.

 Kolumnist Christoph Schwennicke.

Kolumnist Christoph Schwennicke.

Foto: Schwennicke

Welche anderen Kunden?, entgegnet Frau Wegmüller auf unsere Frage, ob andere Kunden schon warteten - in dieser Mischung aus Witz, herbem Charme und Fatalismus, die wir schon auf der Hinfahrt liebgewonnen hatten. Sieben Sonnentage in der überwältigenden Gletscherlandschaft der Alpen von Eiger, Mönch und Jungfrau gehen zu Ende. Nach unserer Abreise aus dem 2300-Seelen-Dorf Wengen hat Frau Wegmüller mit ihrem kleinen Transporter nichts mehr zu tun. Keine Gäste, keine Fahrten, so ist das.

Fünf große Hotels stehen leer, Plastikplanen von Immobilienfirmen vor charmanten alten Fassaden begrüßen Reisende. Das Pittoreske des Ortes geht seit Jahren allmählich ins Morbide über. Wengen stürbe - wären da nicht die Besucher aus Pakistan, Indien, China, Korea, Japan und der arabischen Welt. Sie fahren mit der Zahnradbahn bis auf das Jungfraujoch, zum "Top of Europe", dem höchsten Bahnhof Europas. Auf 3466 Metern eröffnet sich ein gigantischer Blick auf den breiten Strom des Aletschgletschers. Gäste vom andern Ende der Welt in ungeeigneten Schühchen stapfen durch den nassen Firn, lassen sich mit Skifahrern wie mit Marsmenschen fotografieren. Europa als Freilichtmuseum, als Streichelzoo, als Themenpark, als Zeitreise ins vorige Jahrhundert. Die Zukunft findet woanders statt, die Vergangenheit kann man sich in Europa anschauen.

Politisch wird wenig gegen diese Tendenz getan. Im Gegenteil. Während in Wengen die letzten Wochengäste abfahren, attackiert der ungarische Premier Viktor Orbán beim Kongress der europäischen Christdemokraten auf Malta die Migrationspolitik der deutschen Kanzlerin. Zur gleichen Zeit legt Großbritannien in Brüssel sein Austrittsgesuch aus der EU vor, worauf mit einer langen Rechnung von Rückforderungen gekontert wird. Und US-Präsident Trump soll Kanzlerin Merkel eine Nato-Kostennote im dreistelligen Milliardenbereich bei ihrem Besuch in Washington unter die Nase gehalten haben: Da seht her, das schuldet ihr uns für all die Militäreinsätze der vergangenen Jahre, die wir für euch durchgezogen haben.

Europa und der gesamte Westen stehen von außen unter Druck wie nie. Und statt sich in dieser Lage unterzuhaken, verfallen die Einzelteile des Systems in Egoismus. In ein "Wir gegen uns". Das spüren auch die Menschen, die sich zu den "Pulse of Europe"-Demonstrationen zusammenfinden. Es wird ernst. Es ist schon ernst.

Christoph Schwennicke ist Chefredakteur des "Cicero" und schreibt regelmäßig an dieser Stelle im Rahmen einer Kooperation. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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