Kolumne: Berliner Republik In der Hauptstadt regiert die Hektik

In der Bonner Republik durften Staatsmänner bei gegenseitigen Besuchen noch einen Mittagsschlaf einlegen, ohne dass dies jemand kritisierte. Wer in der Berliner Republik nicht permanent präsent ist, gilt schnell als Weichei.

Als US-Präsident Eisenhower 1959 nach Deutschland zum Staatsbesuch kam, zogen sich Bundeskanzler Adenauer und er nach dem Mittagessen zu einem Schläfchen zurück. Das wäre heute undenkbar. Man stelle sich vor: Barack Obama und Angela Merkel würden sich die alten Herren zum Vorbild nehmen und nach einem Gespräch über die Ukraine, NSA und Nahost erst einmal ein Nickerchen machen, statt Nachrichten zu produzieren! Man hätte das Gefühl, die Welt stünde still.

Vielmehr sind Staats- und Regierungsbesuche heute auf die Minute getaktet. Neben den Begegnungen der Offiziellen gibt es Gespräche mit Wirtschaftsvertretern, Vorträge vor Thinktanks und Treffen mit Intellektuellen oder Kulturschaffenden.

Dabei bestreitet kaum einer, dass die Spruchweisheit zutrifft, wonach in der Ruhe die Kraft liege. René Descartes zum Beispiel, Philosoph im 17. Jahrhundert und Begründer des modernen Rationalismus, lag morgens gerne lange im Bett und dachte nach. Was würde der heute wohl tun, wenn ihm ein guter Gedanke kommt? Möglicherweise würde er ihn über Twitter verbreiten, in 140 Zeichen, statt weiter zu denken. Frei nach dem Motto: Ich twittere, also bin ich.

Nun soll das hier kein kulturpessimistischer Aufsatz werden. Aber die Zahl der Politiker wächst, die darüber stöhnen, quasi in Echtzeit alles wissen zu müssen und kommentieren zu können. Vielleicht sei die Methode der Kanzlerin ja die richtige, sich so lange Unentschlossenheit und Zögerlichkeit vorwerfen zu lassen, bis man die Dinge durchdacht habe, meinte kürzlich ein Kabinettsmitglied.

Während das Berliner Regierungsviertel stets gewaltig unter Druck steht wie ein Kessel am Siedepunkt, finden sich in den Bundesländern zunehmend Hektik-Verweigerer. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann zählt beispielsweise dazu. Von ihm ist bekannt, dass er auf seine Ruhepausen besteht. Der hyperventilierende Berliner Betrieb ist ihm ein Gräuel, wie Vertraute berichten.

In der Hauptstadt gelten Politiker, die nicht ganz so flink mit der Zunge sind und auch nicht zu jedem Thema eine Meinung haben, schnell als Provinz-Heinis. Langsamkeit ist etwas für Weicheier.

Selbst der Bundespräsident mutet sich mit seinen 74 Jahren immer noch viel zu. Auf eine Interviewfrage, wie er es denn mit dem Mittagsschlaf halte, antwortete er ein wenig ausweichend "manchmal schon". Dann fügte er an, dass er in der Regel für "ausreichende Nachtruhe" sorge. Die Schlagzeile vom Mittagsschlaf im Schloss mag sich heute auch kein Präsident mehr leisten.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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