Kolumne: Berliner Republik Die neue Scheu vor der Verantwortung

Nicht nur Rocklängen, Anzugschnitte und Christbaumschmuck unterliegen der Mode. Auch die Demokratie. Derzeit sind Basisbefragungen der Parteien nach Wahlen der letzte Schrei. Der Wähler will aber vorher wissen, woran er ist.

Die Basisdemokratie war lange Zeit ein Alleinstellungsmerkmal der Grünen. Ihre Parteitage waren dafür berüchtigt, laut und lange zu zanken und am Ende verrückte Sachen zu beschließen. Exemplarisch sei an die Forderung nach fünf (damals noch) D-Mark pro Liter Benzin erinnert.

Die Piraten haben in der deutschen Parteienlandschaft zwar nur eine einmalige Welle erzeugen können. Als Strandgut aber blieb die Idee einer "Liquid Democracy" zurück, also einer Form der Meinungsbildung, die permanent im Fluss ist. Die Vorteile, die Parteibasis nicht einfach murrend zurückzulassen, sondern teilhaben zu lassen, haben sich bis zur Union herumgesprochen. Auch CDU-Generalsekretär Peter Twitter-Tauber horcht regelmäßig über digitale Kanäle, was die Basis so denkt.

Ohne Basis geht es nicht, die eine Partei trägt und deren Mitglieder im Wahlkampf immer noch analog bei Wind und Wetter Plakate kleben, Kugelschreiber verschenken und sich dafür beschimpfen lassen, was ihr Führungspersonal so macht. Also muss die Basis mitreden dürfen - sinnvollerweise in der Frage, wer zum Beispiel bei einer Wahl als Spitzenkandidat antreten soll. Der SPD wäre Peer Steinbrück möglicherweise erspart geblieben.

Eine bedenkliche Entwicklung ist aber die neue Mode, die Basis um Rat zu fragen, was man nach einer Wahl machen soll. So ließ die SPD im Bund über den Koalitionsvertrag abstimmen und nutzte dieses Basisvotum auch schon als Druckmittel während der Koalitionsverhandlungen. Die Sozialdemokraten in Thüringen wollen nun von ihrer Basis wissen, ob sie über Rot-Rot-Grün verhandeln sollen. Die Linke wiederum will über einen solchen Koalitionsvertrag ihre Parteimitglieder abstimmen lassen.

Wenn diese Beispiele Schule machen, werden Regierungsbildungen künftig zu Sisyphos-Aufgaben. Die Gefahr, dass die Parteien nach Wochen von Verhandlungen neu anfangen müssen, wächst. Ein gefährliche Nebenwirkung wäre zudem, dass die Parteienverdrossenheit steigt. Der gemeine Wähler ohne Parteibuch wünscht, dass mit seinem Votum verantwortlich umgegangen wird.

Die repräsentative Demokratie sieht vor, dass die Gewählten Verantwortung für die Gemeinschaft übernehmen. Das Befragen von Parteibasen nach Wahlen zeigt aber das Gegenteil: Es belegt Scheu vor der Verantwortung. Wenn es schiefgeht, können die Parteiführer sagen: Das war der Wille der Basis. Im Ergebnis hat man statt fließender Meinungsbildung nur noch zerfließende Verantwortung. Die Parteiführer müssen vielmehr den Schneid haben, mit ihren Leuten vor Wahlen auszudiskutieren, wo eine Partei hinmöchte. Das würde übrigens auch dem Wähler die Entscheidung leichter machen und könnte die Wahlbeteiligung steigern. Der Wähler weiß ganz gerne, woran er ist.

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(RP)
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