Analyse Neues Konzept für die Pflege gesucht

Berlin · Seit Jahren diskutieren Politiker und Fachleute, wie künftig Pflege so definiert wird, dass alle Bedürftigen die Leistungen erhalten, die sie benötigen. Im Juni soll ein neues Konzept vorgelegt werden.

Der gordische Knoten in der Pflege soll heute durchschlagen werden. Nach Zerwürfnissen bei der vergangenen Sitzung im April tagt der Pflegebeirat der Bundesregierung heute erneut. Arbeitsziel: Die Experten sollen am 10. Juni ein Konzept für die größte Pflegereform seit Einführung des Versicherungsmodells 1995 vorlegen. Nachdem der Spitzenverband der Krankenkassen und Vertreter der Arbeitgeber in dem Gremium zuletzt die Hoffnung auf eine Einigung deutlich gedämpft hatten, versicherten in der vergangenen Woche die meisten Beteiligten öffentlich ihren Willen zur Pflegereform.

Im Zentrum steht die Definition eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs, wonach die bisherigen Pflegestufen genauer gefasst werden sollen. Bislang wird schlicht definiert, wie viel Minuten Hilfe beispielsweise für Nahrungsaufnahme und Körperpflege ein Mensch pro Tag benötigt. Dies führt im Alltag der Pflegedienste zu einer strengen Zeitreglementierung, die den meisten Pflegebedürftigen nicht gerecht wird. Insbesondere Demenzkranke, die körperlich oft noch fit sind, sich aber dennoch vielfach keineswegs alleine versorgen können, sollen durch den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff bessergestellt werden.

Seit Jahren diskutieren Politiker und Fachleute über diese Reform. Auch die Vorgängerin von Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP), die SPD-Politikerin Ulla Schmidt, hatte zu diesem Thema bereits einen Pflegebeirat eingesetzt. Der lieferte auch ein allseits anerkanntes Konzept ab, das eine Reform der Pflegestufen von drei zu fünf vorsah. Zudem sollten die Pflegebedürftigen nicht mehr Minuten zugeteilt bekommen. Vielmehr war der Plan, die Pflege gezielt nach den Handicaps der Betroffenen auszurichten und, soweit möglich, ihre Selbstständigkeit zu fördern. Die große Koalition konnte sich damals nicht zu einer großen Pflegereform durchringen. Die Umsetzung des Konzepts hätte bis zu sechs Milliarden Euro jährlich gekostet. Dies hätte aber auch eine Erhöhung des Beitragssatzes für die Pflegeversicherung von rund 0,6 Prozentpunkten entsprochen.

Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) setzte den Expertenbeirat in ähnlicher Formation, nur unter neuer Führung, wieder ein. Die Experten arbeiten seit Mai 2011 auf der alten Grundlage weiter. Mittlerweile ist von Mehrkosten zwischen 0,2 und vier Milliarden Euro die Rede. Der Streit in dem Expertengremium hat vor allem mit den Kosten zu tun. Die Kassen fürchten, dass neue Ansprüche der Versicherten die ohnehin in der Pflege explodierenden Kosten weiter aus dem Ruder laufen lassen könnten. Mittlerweile gibt es auch in der Union einige Fachpolitiker, die erwägen, am Ende nur eine kleine Pflegereform umzusetzen. Demnach sollten die drei Pflegestufen erhalten bleiben. Nur innerhalb der Stufen sollte es Möglichkeiten geben, die Bedürfnisse der Betroffenen stärker zu berücksichtigen.

Dass eine weitere Reform in der Pflege notwendig ist, um die steigende Zahl an Pflegebedürftigen und insbesondere die rasch wachsende Zahl Demenzkranker auch künftig noch versorgen zu können, bestreitet niemand. Die Lage in der Pflege ist prekär. Schon heute herrscht in den Heimen ein dramatischer Fachkräftemangel. Wegen der hohen körperlichen Belastung, des geringen Ansehens und der schlechten Bezahlung geben zudem vergleichsweise viele Pflegekräfte ihren Beruf vorzeitig auf. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung könnten deshalb 2030 bis zu 500 000 Vollzeit-Pflegekräfte fehlen.

Derzeit leben in Deutschland rund 2,5 Millionen pflegebedürftige Menschen. Rund 70 Prozent von ihnen werden zu Hause versorgt. Nach Expertenschätzung wird die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2030 auf 3,2 bis 3,4 Millionen Menschen steigen. In einigen Kommunen wird sich die Zahl der Pflegebedürftigen sogar verdoppeln.

Eine besondere Herausforderung stellt die steigende Zahl an Demenzkranken dar. Nach Erkenntnissen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft wächst ihre Zahl täglich um 100 Personen. Sofern kein Durchbruch in Prävention und Therapie gelinge, werde sich die Zahl der Erkrankten bis zum Jahr 2050 auf etwa drei Millionen Menschen erhöhen. Heute sind es mit 1,4 Millionen Erkrankten etwas weniger als die Hälfte. Der Bayreuther Finanzwissenschaftler Volker Ulrich spricht bei der Entwicklung der Demenz in unserer Gesellschaft gar von einer "Erkrankung epidemischen Ausmaßes".

Die Frage, wie sich das Land auf die Versorgung der rasch steigenden Zahl von Demenzkranken einstellt, treibt nicht nur die Pflegeexperten um. Die Demenz war auch Thema beim Demografie-Gipfel der Regierung und beim Zukunftsdialog der Kanzlerin in den vergangenen Jahren. Es gab eine weitgehende Einigung, dass Deutschland einer "Nationalen Demenzstrategie" bedarf. Das schöne Schlagwort wurde bislang allerdings nicht mit konkreten Handlungsempfehlungen gefüllt. Die Praktiker beispielsweise fordern deutlich mehr Hilfe für pflegende Angehörige. Auch die Frühdiagnostik müsse verbessert werden. Und angesichts einer wachsenden Zahl allein lebender Älterer bedürfe es neuer Wohnformen.

Noch ist offen, ob die Experten tatsächlich am 10. Juni ein Konzept vorlegen, das wiederum vor der parlamentarischen Sommerpause der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Es steht zu befürchten, dass angesichts der Größe der Aufgabe die Regierung, gleich welcher Farbe, auch in der nächsten Wahlperiode nicht die Kraft haben wird, ein derart großes Projekt wie eine Pflegereform umzusetzen. Eine solche Reform müsste die Situation in Heimen und bei häuslicher Pflege heute verbessern und zugleich einen Plan für die Zukunft mit rasch steigender Zahl Betroffener entwerfen.

(qua)
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