SPD nach Wahl in Hessen Unter Beschuss

Berlin · Die SPD hoffte auf mehr in Hessen. Andrea Nahles muss um ihre Macht kämpfen.

„Es muss sich in der SPD etwas ändern“
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Foto: dpa/Kay Nietfeld

Thorsten Schäfer-Gümbel wollte es noch einmal wissen. Dritter Anlauf  als SPD-Spitzenkandidat in Hessen, aber nach den ersten Zahlen vom Wahlabend klappt es wieder nicht. Es ist eine schmerzhafte Schlappe. 2013 hatte er noch 30,7 Prozent geholt, jetzt trifft er die Grünen bei knapp unter 20 Prozent auf Augenhöhe. Es ist das schlechteste SPD-Ergebnis in der Geschichte Hessens. Schäfer-Gümbel, oder kurz „TSG“, gelang es nicht, das von den Demoskopen prognostizierte Potenzial auszuschöpfen. Der von vielen Genossen sehnlichst erhoffte Befreiungsschlag bleibt nun aus (hier finden Sie unseren Liveticker zum Wahlabend).

Hessen hätte eine emotionale Kehrtwende für die Sozialdemokraten bedeuteten können, einen Effekt, wie ihn Malu Dreyer 2016 in Rheinland-Pfalz oder Stephan Weil im vergangenen Jahr in Niedersachsen auslöste. Hätte, hätte, Fahrradkette. Jetzt ist nichts gewonnen, der Ruf als Volkspartei aber droht der SPD verloren zu gehen. Und die einst treuesten Verbündeten, die Grünen, werden für die Sozialdemokraten zur schärfsten Konkurrenz. Umfragen sehen die SPD im Bund bei nur noch 14 Prozent, die Grünen hingegen bei 21 Prozent. Das Willy-Brandt-Haus brennt lichterloh. Und auch die AfD räubert kräftig bei den Sozialdemokraten. Sie sind von allen Seiten unter Beschuss.

Klar ist, dass die Debatte um den Sinn und Zweck der großen Koalition in Berlin und um die richtige Strategie zur Rettung der SPD als Volkspartei jetzt erst richtig an Fahrt aufnehmen wird. Die Landtagswahl diente als letzter Damm, hinter dem sich der Frust vieler Kritiker der amtierenden Führung um Parteichefin Andrea Nahles und das von ihr verteidigte Bündnis mit der Union angestaut hatte. Nun, da die Wahl vorbei und klar verloren ist, wird sich der Ärger Bahn brechen.

Für Nahles bedeutet das Alarmstufe Rot, sie muss um ihre Zukunft als Parteichefin kämpfen. Zwar beteuerten am Wahlabend alle führenden Sozialdemokraten, dass sich Personalfragen nicht stellen würden. An der Basis sehen das viele Genossen aber längst anders. Der Druck auf Nahles ist enorm. Schleswig-Holsteins designierte SPD-Chefin Serpil Midyatli forderte etwa für den jetzt eingetretenen Fall einer Niederlage in Hessen einen Sonderparteitag. Dort solle eine neue Parteispitze gewählt werden. Auch Teile des linken Parteiflügels um den Parteivize Ralf Stegner, den Vorsitzenden der linken SPD-Bundestagsabgeordneten, Matthias Miersch, und Juso-Chef Kevin Kühnert werben immer unverhohlener für einen Austritt aus der großen Koalition. „Unter den Bedingungen, unter denen wir hier in Berlin arbeiten, wird die SPD in keinem Bundesland einen Fuß auf den Boden bekommen“, sagte Kühnert am Sonntagabend. Gleichzeitig gibt es auch viele Abgeordnete und Mitglieder an der Basis, die an der Koalition festhalten, weil ihnen die Alternative in Form von Neuwahlen als noch weniger attraktiv erscheint.

Nahles muss schlichten, Nahles muss kämpfen. Am Sonntagabend ging sie daher gleich in die Offensive. Der Zustand der Regierung sei nicht akzeptabel, sagte Nahles. Sie übernahm klar die Verantwortung für das schlechte Ergebnis in Hessen. Es müsse sich etwas ändern in der SPD, so die Bundeschefin, die erst seit Ende April im Amt ist. Schwarz-Rot müsse nun einen „verbindlichen Fahrplan" vereinbaren – an dessen Umsetzung bis zur „Halbzeitbilanz" der Regierung werde sich entscheiden, ob die SPD in der Koalition noch „richtig aufgehoben" sei, sagte Nahles. Das war als ein Ultimatum zu verstehen, auch an den Koalitionspartner. So müsse das sogenannte Gute-Kita-Gesetz für eine bessere Ausstattung von Kindertagesstätten noch in diesem Jahr vom Bundestag beschlossen werden, sagte ein SPD-Vertreter am Sonntagabend der Nachrichtenagentur Reuters. Auch die Grundgesetzänderung zur finanziellen Förderung des sozialen Wohnungsbaus durch den Bund solle Bundestag und Bundesrat noch in diesem Jahr passieren. Dies sehe der Fahrplan vor, den SPD-Chefin Andrea Nahles am Montag dem Parteivorstand machen werde. Gleichzeitig wolle Nahles den inhaltlichen Klärungsprozess bei Streitthemen in der Partei beschleunigen, hieß es aus der SPD weiter. Ihr Fahrplan werde vier Punkte vorsehen, bei denen die SPD ihre inhaltliche Position klären müsse. Dazu werde unter anderem die Sozialstaatsfrage mit der Hartz-IV-Debatte gehören. Diese inhaltlichen Fragen sollten auf einer Klausurtagung des Parteivorstandes Anfang nächsten Jahres entschieden werden.

Unterdessen kündigte SPD-Vizechefin Malu Dreyer eine stärkere Abgrenzung von der Union an. „Wir waren zu nachsichtig mit dem Koalitionspartner in Berlin“, sagte sie unserer Redaktion. Der Streit zwischen den Unionsparteien CDU und CSU habe die SPD als Koalitionspartner ebenfalls beschädigt. „Wir werden auf einem verbindlichen Fahrplan bestehen. Die Union ist am Zug“, sagte Dreyer. Die SPD erlebe schmerzlich, dass viele Menschen nicht wüssten, wofür sie stehe. „Das müssen wir klar machen und dafür haben wir nicht viel Zeit“, sagte Dreyer. Mit Blick auf den möglichen Rücktritt von CSU-Chef Horst Seehofer sagte sie: „Wir werden nicht warten, bis Seehofer geht oder auch nicht.“

Andrea Nahles will auch Zeit gewinnen, um intern die Kritik in geordnete Bahnen zu lenken. Nicht Hals über Kopf raus aus der großen Koalition, gleichzeitig aber erkennbaren Wandel durchsetzen. So sieht die erdachte Strategie der SPD-Spitze aus. Ob die Genossen sie mittragen werden, dürfte sich bereits in den nächsten Tagen zeigen. Denn schon bei einer Vorstandsklausur am 4. und 5. November könnte ein knallharter Forderungskatalog der Parteilinken vorgelegt werden, was bis Weihnachten in der Koalition umgesetzt werden muss. Ansonsten könnten sie mobil machen für den Ausstieg aus der Koalition.

(jd)
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