Gaucks großes Lebensthema Gauck und seine Idee der Freiheit

Berlin · Das große Lebensthema des künftigen Bundespräsidenten Joachim Gauck ist die Freiheit. Sie entbehren zu müssen, prägte seine Kindheit und Jugend in der DDR. Es ist zu erwarten, dass der 72-Jährige ein unbequemer Präsident wird, der weder die politische Klasse noch die Bürger mit seinem Mut zur Wahrheit verschont.

Als Joachim Gauck das erste Mal von SPD und Grünen als Bundespräsident vorgeschlagen wurde, war er ein wenig überrascht. Nicht etwa darüber, dass ihm das höchste Amt im Staat angetragen wurde, sondern vielmehr darüber, dass sich ausgerechnet die Grünen und die SPD für ihn stark machten.

Eher schon hatte er erwartet, dass ihn die bürgerlichen Parteien vorschlagen, denn in deren Wertesystem ist auch Gauck zu Hause. Ein "aufgeklärter Patriot" sei er, hat er einmal über sich selbst gesagt, und ein "linker, liberaler Konservativer". In jedem Fall ist er ein unabhängiger Geist, der sich anschickt, ein unbequemer Präsident zu werden, auch für Rot-Grün.

Sein großes Lebensthema ist die Freiheit. Sie entbehren zu müssen, prägte seine Kindheit und Jugend in der DDR. Mit 13 hing er am Radio und verfolgte die Geschehnisse des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 in der DDR. Als junger Mann wollte er beim Aufstand in Ungarn am 1956 "am liebsten mitkämpfen". Er war begeistert von den Schriften des revolutionären Freidenkers Friedrich Schiller und gerührt von den Worten des amerikanischen Bürgerrechtlers Martin Luther King. Seine Entscheidung, schließlich Theologie zu studieren, entstand weniger aus religiöser Motivation als aus dem Streben, sich aus der intellektuell engen Welt der DDR zu befreien. "Die ihn damals erlebt haben, erinnern sich weniger an seine religiösen Botschaften. Eher an seine Predigten über die Freiheit", sagt Gauck-Biograf Norbert Robers über den Pfarrer.

Die Bürgerrechtsbewegung der DDR und der Mauerfall von 1989 waren für den evangelischen Pastor der Beweis, dass auch Deutsche "Revolution können". "Auch Deutsche können Freiheit", schwärmte er weiter in seiner Grundsatzrede im Juni 2010, bevor er als Kandidat von SPD und Grünen gegen Christian Wulff einen ersten erfolglosen Anlauf ins Schloss Bellevue nahm.

Vom Freiheitsgedanken ist auch seine Sicht auf Politik insgesamt durchdrungen. Joachim Gauck ist gegen einen Staat, der die Wirtschaft an der kurzen Leine hält. Er ist auch gegen Fürsorge durch den Staat, die den Einzelnen in Hilflosigkeit verharren lässt. Freiheit heißt für ihn auch Verantwortung, die eines jeden für das eigene Leben. Das sind sehr liberale Töne. Im konkreten Politikalltag könnte er mit solchen Positionen gerade bei Sozialdemokraten und Grünen anecken. Im Internet regt sich teils schon heftige Kritik an früheren Äußerungen Gaucks. Die Nutzer nehmen es ihm übel, dass er die antikapitalistische "Occupy"-Bewegung als "albern" bezeichnet hat. Sie ziehen auch über seine Einschätzung her, dass mit der Vorratsdatenspeicherung noch kein "Spitzel-Staat" beginne.

Beobachter und Weggefährten sagen ihm jedoch auch ausgezeichnete Fähigkeiten als Moderator nach. "Den Mann können Sie um 3 Uhr morgens wecken und ihm sagen, zu welcher Gruppe er sprechen soll. Er wird immer die richtigen Worte finden", sagt sein Biograf Robers.

Zehn Jahre lang stand Joachim Gauck einer der am schwierigsten zu leitenden Behörden der Nachkriegsgeschichte vor: 1990 wurde er zum Beauftragten der Stasi-Unterlagenbehörde und damit zum obersten Verwalter all jener Akten, die die Diktatur über vier Jahrzehnte über seine Bürger gesammelt hatte — ein Fundus mit gesellschaftlicher Sprengkraft.

Der heutige Leiter der Behörde, Roland Jahn, sieht die Entscheidung für Gauck als Kandidaten für das Bundespräsidentenamt auch als "eine Würdigung der Arbeit der Stasi-Unterlagenbehörde". Jahn, selbst einst DDR-Bürgerrechtler wie Gauck, bezeichnet die Kandidatur seines Amtsvorgängers als "deutliches Zeichen dafür, dass die Aufklärung über Diktaturen als Wert für die Demokratie angesehen wird". "Konsequent" und "beharrlich" sind Adjektive, mit denen viele Joachim Gauck beschreiben. Der Historiker und frühere Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat etwa, Manfred Wilke, sieht es als Gaucks Erfolg, zwischen Bürgerrechtlern, die nach der Wende die Offenlegung aller Akten forderten, und jenen, die rasch einen Schlussstrich unter die DDR-Geschichte ziehen wollten, vermittelt zu haben. "Es war sein Verdienst, dass der Einigungsvertrag noch einmal geändert wurde", sagt Wilke. "Er hat auch die westdeutsche Politik davon überzeugt, dass die Auseinandersetzung mit den Strukturen der DDR für die Demokratie unabdingbar notwendig ist." Die Akten mussten und müssen, wenn auch mit Einschränkungen, geöffnet werden.

Seit dem Jahr 2000, als er nach zwei Amtszeiten die Leitung an Marianne Birthler übergab, engagiert sich Gauck unter anderem mit Vorträgen und als Vorsitzender der Vereinigung "Gegen Vergessen — für Demokratie". Zu seiner Grundmelodie über die Freiheit hat sich in seinen Vorträgen die Verantwortung als zweiter prägender Begriff gesellt. Die Verantwortung des Einzelnen für sich und für die Gemeinschaft dient wiederum dazu, die Freiheit zu schützen und zu erhalten.

Nun soll Gauck wieder versöhnen: Seine Fürsprecher in Berlin erhoffen sich vom künftigen Präsidenten, dass er die Kluft zwischen politischer Klasse und Bürgern verkleinert. Er soll nicht nur dem Amt des Bundespräsidenten die Würde zurückgeben, sondern auch dem Volk neues Vertrauen in die Politik einflößen — eine schwere Aufgabe.

"Sie sind ein richtiger Demokratielehrer", lobte Kanzlerin Angela Merkel den früheren DDR-Bürgerrechtler in einer Rede zu seinem 70. Geburtstag im Januar 2010. Merkel bekannte auch, dass sie mit Gauck "die immerwährende Sehnsucht nach Freiheit" verbinde. Damals wusste sie noch nicht, dass SPD und Grüne ihn wenige Monate später als ihren Kandidaten für das Präsidialamt anbieten würden.

Das jahrelange Empfinden der eigenen Ohnmacht in der DDR macht Gauck in seinem Eintreten für mehr Demokratie und Mitsprache authentisch. Im Deutschen Theater rührte er seine Zuhörer 2010 zu Tränen, als er von seiner ersten freien Wahl erzählte: "Ich blicke zurück und sehe mich am Vormittag des 18. März 1990 aus dem Wahllokal kommen — mit Glückstränen im Gesicht." Für einen kurzen Moment sei "alle Freiheit Europas in das Herz eines Einzelnen gekommen". Auf der Klaviatur der Rhetorik kann Gauck auch gut die pathetischen Töne anschlagen. "Er steht gern im Mittelpunkt und hat teilweise missionarische Züge", sagt Robers. Aber das sei angesichts der Aufgabe, die auf ihn zukomme, nicht das Schlechteste.

(RP/jh-)
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