Sigmar Gabriel legt Bundestagsmandat nieder Ein politisches Ausnahmetalent tritt ab

Berlin · Sigmar Gabriel war SPD-Chef, niedersächsischer Ministerpräsident, Vizekanzler, Umwelt-, Wirtschafts- und Außenminister. Über Jahrzehnte prägte er die sozialdemokratische Politik. Doch als Andrea Nahles die Geschicke übernahm, musste Gabriel sich in die dritte Reihe zurückziehen – und blieb auch nach ihrem Rücktritt im Hintergrund. Am 1. November zieht er nun einen Schlussstrich. Einigen in der Fraktion wird er fehlen, anderen nicht.

 Sigmar Gabriel, der frühere SPD-Vorsitzende und Vizekanzler, arbeitet im Sommer 2018 auf einer Zugfahrt von Berlin nach Bayern an seinem Tablet-Computer.

Sigmar Gabriel, der frühere SPD-Vorsitzende und Vizekanzler, arbeitet im Sommer 2018 auf einer Zugfahrt von Berlin nach Bayern an seinem Tablet-Computer.

Foto: dpa/Georg Ismar

Der politische Schützengraben ist so etwas wie sein Sport. Sigmar Gabriel liebt die Debatte, liebt die Auseinandersetzung, er provoziert, reizt, nervt – und er treibt damit sich, seine Mitstreiter und Gegner gleichermaßen an. Das wird wohl so bleiben, auch wenn Gabriel in diesen Tagen, zwei Wochen nach seinem 60.Geburtstag, den politischen Rückzug angekündigt hat. Zum 1. November will er sein Bundestagsmandat niederlegen und sich damit früher als bisher geplant aus der aktiven Politik zurückziehen. Das teilte er Freunden und Weggefährten in einem Brief mit. Zuvor hatte Gabriel lediglich angekündigt, bei der nächsten Bundestagswahl nicht erneut für seinen Wahlkreis Salzgitter-Wolfenbüttel kandidieren zu wollen. Jetzt beschleunigt er seinen Abschied.

„Das ist ein Schritt, der mir nach 30 Jahren Parlamentszugehörigkeit für unsere Region wahrlich nicht leicht fällt“, schreibt Gabriel in dem Brief. Es habe „sehr persönliche Gründe“, dass er nach etwas mehr als der Hälfte der Legislaturperiode schon ausscheide. „Der wichtigste ist mein Gefühl, dass ich mit 60 Jahren jetzt noch einmal die Chance habe, etwas Neues anzufangen“, so Gabriel. Er gibt die Lehraufträge an den Universitäten Bonn und Harvard (Cambridge, USA), seine Arbeit als Publizist und Redner zu internationale Fragen und das noch recht neue Ehrenamt als Vorsitzender der „Atlantik-Brücke“ als weitere Gründe an. Gabriel bittet darum, ihm den Schritt „in ein etwas anderes Leben“ nicht übel zu nehmen – bevor er auch seiner Verletzung über den Umgang mit seiner Person Ausdruck verleiht. Er habe nach seinem Ausscheiden aus dem Amt als Außenminister zunehmend den Eindruck gewonnen, „dass die SPD auf Bundesebene meiner Möglichkeiten und Fähigkeiten nicht mehr bedarf“, so Gabriel. „Und wenn man nicht mehr recht gebraucht wird, dann soll man besser gehen“, schreibt er weiter.

Tatsächlich verlor Gabriel nach der für die SPD desaströsen Bundestagswahl 2017 massiv an Einfluss. Zuvor war er nach gut sieben Jahren als SPD-Chef zurückgetreten und hatte Martin Schulz den Vortritt für die Kanzlerkandidatur und den Parteivorsitz überlassen. Zugleich hatte Gabriel die Nachfolge von Frank-Walter Steinmeier als Außenminister angetreten. Doch nach dem quälenden Prozess der SPD zum Eintritt in die große Koalition, Schulz’ Rückzug und dem Sprung von Andrea Nahles an die Fraktions- und Parteispitze, musste Gabriel sein Ministeramt abgeben. Er war persönlich gekränkt, fühlte sich fallengelassen, hintergangen. Gegen Martin Schulz wurde er persönlich, schob ein angebliches Zitat seiner Tochter („der Mann mit den Haaren im Gesicht“) vor, um ihn zu beleidigen. Sie söhnten sich später aus, das ohnehin seit Jahren schwierige Verhältnis zu Nahles aber galt nach der Wahl als zerrüttet.

In der Fraktion ärgerten sich viele Abgeordnete über Gabriel. Sie machten ihn maßgeblich verantwortlich für den Niedergang der SPD, was auch in einer umfassenden Wahlanalyse festgehalten wurde. Danach soll Gabriel gespottet haben: „Ich bekenne mich dauerhaft schuldig.“ Er werde in sein Testament schreiben, „dass mich der SPD-Parteivorstand nach meinem physischen Ableben ausstopfen und im Willy-Brandt-Haus in den Keller stellen darf. Und immer wenn ein Schuldiger gesucht wird, dürfen sie mich rausholen." Fast jeder Abgeordnete konnte von Konflikten mit Gabriel berichten, von seiner Sprunghaftigkeit, seiner Unzuverlässigkeit. Zugleich zollten ihm selbst innerparteiliche Rivalen Respekt und Anerkennung für sein politisches Ausnahmetalent.

Der bayerische Abgeordnete Florian Post gehört zu der Minderheit in der Fraktion, die stets zu Gabriel hielt. „Mit Sigmar Gabriel verlässt ein guter Freund die Fraktion“, sagte er unserer Redaktion. „Oft wird beklagt, dass es keine Politiker mehr mit Ecken und Kanten gibt. Sigmar Gabriel hat Ecken und Kanten und genau das macht ihn zum talentiertesten, besten Politiker, den wir in unseren Reihen haben.“ Gabriel werde als brillanter Redner und kluger Vordenker in der SPD fehlen, sagte Post. Sein Ausscheiden stimme ihn traurig, auch wenn er Gabriel gut verstehen könne. „Nach der Bundestagswahl war der Umgang mit ihm unterirdisch. Auch in der Fraktion war er bei vielen nicht mehr wohl gelitten, die ihn dann auch geschnitten haben und ihn nicht mehr kennen wollten“, so Post. Dass Gabriel jetzt gehe und Zeit für seine Familie und die Ehrenämter haben möchte, könne er vor diesem Hintergrund nachvollziehen. Auch der agrarpolitische Sprecher der Fraktion, Rainer Spiering, bricht eine Lanze für Gabriel. „Mit Sigmar Gabriel verliert die SPD-Bundestagsfraktion vor allem einen der begabtesten und durchsetzungsfähigsten Politiker“, sagte Spiering. „Seine Präsenz, seine Analytik, seine Beratung und die Wucht seines Auftretens werden uns fehlen.“

Dass Gabriel auch deswegen früher ausscheiden könnte, weil er Druck von möglichen Nachfolgern in seinem Wahlkreis bekommen hat, gilt als Gerücht. Schließlich ist der in Ostfriesland lebende Arbeits- und Sozialpolitiker Markus Paschke als erster Nachrücker auf der niedersächsischen Landesliste vorgesehen. Bis 2017 hatte er schon mal im Bundestag gesessen, ab November könnte Paschke zurückkehren.

(jd)
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