Preisbindung für Medikamente gekippt Urteil mit Risiken und Nebenwirkungen

Berlin · Der Europäische Gerichtshof hat in einer überraschenden Entscheidung die Preisbindung für Medikamente in Deutschland gekippt. Verbraucher könnten von Preissenkungen profitieren, Apotheken aber unter Druck geraten.

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur deutschen Preisbindung für rezeptpflichtige Medikamente dürfte weitreichende Folgen für Patienten und Apotheken haben. Der EuGH kassierte gestern in einer überraschend eindeutigen Entscheidung die Preisbindung, wovon vor allem Online-Versandhändler aus dem europäischen Ausland profitieren. Die Regelung stelle eine "nicht gerechtfertigte Beschränkung des freien Warenverkehrs" dar, begründeten die Richter ihr Urteil. Während der deutsche Apotheken-Verband mit Entsetzen reagierte, zeigte sich die niederländische Internet-Versandapotheke Doc Morris erfreut und kündigte einen verschärften Preiswettbewerb an.

Worum ging es im Streit vor dem EuGH?

Im nun verhandelten Fall war die Selbsthilfeorganisation Deutsche Parkinson-Vereinigung eine Kooperation mit der niederländischen Versandapotheke Doc Morris eingegangen. Die Mitglieder konnten von der Apotheke Boni für rezeptpflichtige Parkinson-Medikamente bekommen. Nach Ansicht der deutschen Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs verstößt das aber gegen die in Deutschland gesetzlich vorgeschriebene Festlegung eines einheitlichen Apothekenabgabepreises. In erster Instanz beim Oberlandesgericht Düsseldorf hatte die Wettbewerbszentrale mit ihrer Klage bereits Erfolg, der EuGH befasste sich nun jedoch auch grundlegend mit dem System der Preisbindung - und lehnt es ab. Dem Urteil zufolge dürfen etwa Online-Apotheken aus dem Ausland die Preisbindung künftig unterlaufen.

Welche Vorteile hat das für Patienten?

Patienten können wie bisher verschreibungspflichtige Medikamente über ortsnahe Apotheken oder über den Versandhandel im Internet erhalten. Da sich die Online-Apotheken künftig nicht mehr an die Preisbindung halten müssen, dürften Arzneimittel im Netz günstiger werden. Der Versandhändler Doc Morris hat bereits angekündigt, dass er die ursprünglich vom OLG Düsseldorf verbotenen Rabatte an die Parkinson-Patienten wieder bezahlen werde. "Chronisch kranke Menschen mit einem hohen und regelmäßigen Medikamentenbedarf werden so jährlich um mehrere hundert Euro entlastet", sagte der Chef der Versandapotheke, Olaf Heinrich. Doc Morris will nach eigenen Angaben auch die Rezeptgebühr von zehn Prozent des Arzneimittelpreises ersetzen. Kunden, so heißt es in der Pressemitteilung des Unternehmens, könnten bei DocMorris ab sofort pro Rezept bis zu 12 Euro sparen.

Zudem erwarten Experten, dass mit sinkenden Arzneimittelpreisen auch eine Entlastung im Beitragssystem der Krankenkassen erfolgt, weil diese künftig geringere Medikamentenkosten erstatten müssten. Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, begrüßte das Urteil mit der Hoffnung auf mehr Transparenz. "Für die Versicherten ist das Preisspiel zwischen Kostenträgern und Pharmaindustrie vollkommen undurchsichtig", sagte Brysch.

Welche Risiken drohen Verbrauchern und Apothekern?

Die größten Risiken für Verbraucher sehen Kritiker des Urteils darin, dass Apotheken durch einen Preiskampf in den Ruin getrieben werden und so die ortsnahe Versorgung nicht mehr gewährleistet sein könnte. SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach sagte dazu: "Den Menschen geht damit im schlimmsten Fall eine Grundversorgung mit Medikamenten zu jeder Tag- und Nachtzeit verloren." Kernproblem sei, dass sich Online-Apotheken an die Preisbindung nicht mehr halten müssten, die stationären Apotheken wegen des Arzneimittelgesetzes aber schon. "So entsteht eine erhebliche Wettbewerbsverzerrung", so Lauterbach. Auch der Sprecher der Vereinigung der Apothekerverbände, Reiner Kern, betonte: "In der Fläche gibt es viele kleinere Apotheken, die keine großen wirtschaftlichen Spielräume haben." Sie böten ein Vollsortiment, würden beraten und Nacht- und Notdienste leisten. Um dieses Angebot zu gewährleisten, hielt die Bundesregierung bisher auch an der Preisbindung fest.

Wie reagiert die Politik auf das Urteil?

Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) betonte, er sei "fest entschlossen, das Notwendige zu tun, damit die flächendeckende Arzneimittelversorgung auf hohem Niveau durch ortsnahe Apotheken weiterhin gesichert bleibt." Ähnlich äußerte sich das SPD-geführte Wirtschaftsministerium. "Ich rechne fest damit, dass wir gesetzgeberisch handeln müssen", sagte hingegen Lauterbach. Für Experten ist klar, dass künftig die Preisbindung aus Gründen der Gleichbehandlung auch bei stationären Apotheken entfallen müsste. Das gäbe Raum für Ketten, wenn gleichzeitig das Mehrbesitzverbot abgeschafft wird.

Welche Maßnahmen sind im Gespräch, um die Risiken abzumildern?

Denkbar ist auch, dass die Bundesregierung den Versandhandel mit rezeptpflichtigen Medikamenten aus dem Ausland einschränkt, um inländische Apotheken vor Preisdruck zu schützen. So hält man in der Unions-Bundestagsfraktion ein Versandhandelsverbot für deutsche Arzneimittel für möglich. "Für die inhabergeführten Apotheken dürfen in Deutschland aufgrund des Urteils keine Wettbewerbsnachteile entstehen", sagte die gesundheitspolitische Sprecherin, Maria Michalk (CDU). Aber das könnte ebenfalls vom EuGH wieder aufgekündigt werden

Hat das Urteil auch Auswirkungen auf andere deutsche Preisbindungssysteme, etwa für Bücher?

Aus der Bundesregierung, die an der Buchpreisbindung explizit festhalten will, hieß es zunächst, das sei nicht zu befürchten. Der Vorsitzende der Monopolkommission, Achim Wambach, widersprach. "Die Entscheidung des EuGH deutet darauf hin, dass die gesetzliche Buchpreisbindung nicht mehr ohne Weiteres zu halten sein dürfte."

(jd, mar)
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