Der Wahlkrimi Die Präsidentenwahl als Machtspiel

Berlin · Nicht allein der persönlich geeignetste Kandidat hat die besten Chancen aufs höchste Staatsamt. Es geht immer auch darum, welche aktuellen und künftigen Macht-Optionen mit ihm verbunden sind. Angesichts der aktuellen Situation wurde das auch dieses Mal wieder zu einer kniffligen Angelegenheit für die Kanzlerin – mit Potenzial zum Koalitionskrach.

Nicht allein der persönlich geeignetste Kandidat hat die besten Chancen aufs höchste Staatsamt. Es geht immer auch darum, welche aktuellen und künftigen Macht-Optionen mit ihm verbunden sind. Angesichts der aktuellen Situation wurde das auch dieses Mal wieder zu einer kniffligen Angelegenheit für die Kanzlerin — mit Potenzial zum Koalitionskrach.

Die Kür des neuen Bundespräsidenten ließ am Wochenende die Nerven blank liegen. Denn mit jedem Schritt der Annäherung riskierten Regierungskoalition und Opposition, im längst laufenden Rennen um die Macht 2013 strategisch an Boden zu verlieren. Ein kompliziertes Fingerhakeln mit vielen gegenseitigen Ausschlusskriterien erschwerte zunächst den Konsens, denn der Präsident ist deutlich wichtiger als zumeist vermutet.

Auch für den Architekten und Bauherrn der Bundesrepublik, Kanzler Konrad Adenauer, stand ein Jahrzehnt nach Staatsgründung fest, dass die Stellung, die Aufgabe und die Arbeit des Präsidenten "zu gering eingeschätzt" würden. "Sie ist viel größer, als man schlechthin glaubt", versicherte Adenauer — und machte Anfang April 1959 die Sensation perfekt: Der Kanzler kündigte an, selbst die Nachfolge von Bundespräsident Theodor Heuss anzutreten.

Sein Kalkül wurde schnell klar: Er wollte Ludwig Erhard als Nachfolger im Kanzleramt verhindern. Und da allein der Bundespräsident den Regierungschef dem Bundestag vorschlägt und ernennt, schwebte ihm eine französische Präsidentschaft vor. Er, Adenauer, würde die großen Linien der Politik vorgeben, sich für das administrative Klein-Klein einen genehmen Kanzler aussuchen und auf diese Weise weiter die Geschicke des Landes prägen. Fast zwei Monate brauchte der Kanzler, um zu erkennen, dass die Verfassung die Gewichte in der Realität jedoch anders verteilt hat. Der Präsident ist zwar protokollarisch die Nummer eins. Aber wo es langgeht, entscheidet im Zweifel die Richtlinienkompetenz der Nummer drei, des Kanzlers.

Der entschlossene Schwenk Adenauers hat die landläufige Vorstellung vom kraftlosen Präsidentenamt genährt: Da sei ein bloßer oberster Grüßaugust am Werk, der Diplomaten empfängt, Orden verleiht, Gesetze unterschreibt und ab und zu eine Rede hält. Gerade die letzte Funktion wird oft als einzige "Macht" des Präsidenten angesehen. Glänzende Rhetoriker wären demnach automatisch große Präsidenten. Christian Wulffs Neigung, seine Reden viel zu schnell hinter sich zu bringen und Silben zu verschlucken, hat nach dieser Lesart tatsächlich dazu beigetragen, von seinem Wirken nicht allzu viel zu erwarten. Doch Christian Wulffs entschiedenes Eintreten für die Integration, symbolisch konzentriert auf die Botschaft, auch der Islam gehöre zu Deutschland, hat schon im ersten Amtsjahr zumindest erahnen lassen, dass da Potenzial auch in Wulff steckte.

Denn wichtiger als das pure Reden ist das Gespür für die Themen, die die Deutschen beschäftigen, und die Botschaft, die sie für den Zusammenhalt brauchen. Der Präsident wird somit zum Kitt für die Gesellschaft. Und auch zum Kitt für die Politik. Denn sein Amt ist mit funktionalen Vorrechten verknüpft: Er allein ernennt und entlässt alle wichtigen anderen Amtsträger der Republik. Und er allein entscheidet, ob der Bundestag vorzeitig aufgelöst wird. Damit hat der Präsident eine Schlüsselstellung der Macht, auch wenn er selbst kaum Macht zu haben scheint. Bewusst ist er deshalb vom Wahlturnus des Parlaments und von den augenblicklichen Kanzlermehrheiten abgekoppelt. Und das macht seine Wahl wiederum zu einem wichtigen Signal, das die jeweilige Regierungsmehrheit als auch die Oppositionsmehrheit nutzen wollen, um für die folgenden Jahre deutlich zu machen, wer das Sagen in Deutschland hat.

Die über den Präsidenten entscheidende Bundesversammlung wird vom Bundestagspräsidenten einberufen. Sie besteht aus den Bundestagsabgeordneten und einer gleich großen Zahl von Männern und Frauen, die von den Landtagen entsprechend der Stärke der einzelnen Fraktionen gewählt werden. Obwohl seit Wulffs Wahl gerade einmal knapp 20 Monate vergangen sind, hat sich das Gremium schon wieder verändert. Die Fraktion der FDP ist deutlich dezimiert, die der SPD und der Grünen größer geworden, die der Piraten dazugekommen.

Haarscharf hat Schwarz-Gelb in der Bundesversammlung noch eine Mehrheit. Deshalb gab es insbesondere bei einzelnen Konservativen die Meinung, man müsse der Nation zeigen, dass die "Traum-Koalition" aus Union und FDP immer noch den Anspruch erhebt, Deutschland zu gestalten, und das über das Wahljahr 2013 hinaus. Wenn es in den ersten beide Wahlgängen nicht klappe, reiche im dritten die einfache Mehrheit, und dann habe Schwarz-Gelb unter allen möglichen Konstellationen die besten Chancen — so das Kalkül.

Doch den Managern von Merkels Mehrheiten steckt der Wulff'sche Wahlkrimi von 2010 noch in den Knochen. Kritiker Merkels nutzten aus den Büschen heraus die Bundesversammlung, um ihren Protest zum sichtbaren Manifest zu machen. Jetzt, das war die Befürchtung, könnten frustrierte Liberale zu einem attraktiven SPD-Kandidaten überlaufen.

Gleichzeitig fanden sich in der Union Strömungen, die mit einem gemeinsamen Kandidaten von Union und SPD liebäugelten. Die Leistungen und das Zusammenwirken in der vergangenen großen Koalition werden jetzt schon verklärt und als einzig vernünftige Perspektive für 2013 und die folgenden Jahre gehandelt — warum dem nicht schon jetzt in Person des Präsidenten Rechnung tragen?

Andere Strömungen in der Union hatten auch eine schwarz-grüne Perspektive noch nicht aufgegeben. Sie blickten etwa auf die weit über die Parteigrenzen respektierte Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt. Doch dagegen sprach auch bei den Grünen, dass sie sich rot-grüne Regierungsoptionen verbauen könnten, wenn sie dem Flirt mit der Union und der Versuchung einer Grünen an der Staatsspitze erliegen würden.

Das größte Problem bei diesen Optionen war jedoch die FDP. Sie zeigte sich tief besorgt darüber, ihre wachsende Bedeutungslosigkeit in der Bundesversammlung vorgeführt zu bekommen. FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle gab deshalb schnell zu Protokoll, dass es gegen den Willen einer Koalitionspartei keinen Bundespräsidenten geben dürfe.

Vom Getriebenen schaltete die FDP am Nachmittag zum Treibenden um: Schnell lancierte sie die Meldung, wonach sich das Präsidium "einstimmig" für Joachim Gauck ausgesprochen habe. Das markierte für alle die Bedeutung der FDP und ihre Präsidentenmacher-Macht: Zusammen mit SPD und Grünen hätte die FDP die Gelegenheit, Gauck durchzudrücken. Der aber wollte als Kandidat nur erneut antreten, wenn Merkel ihn darum bäte. Merkel bat nicht. Zumindest zunächst. Sondern ließ ihrerseits aus dem CDU-Präsidium durchsickern, dass die Vorbehalte gegen Gauck erneuert worden seien. Denn ein Präsident Gauck hätte auch dafür gestanden, wie sehr sich die Kanzlerin vor zwei Jahren verschätzte.

Die von der CDU auf die Liste genommenen Persönlichkeiten fanden wiederum bei der FDP keinerlei Gefallen: Sowohl Petra Roth, die Frankfurter Oberbürgermeisterin, als auch Klaus Töpfer, der ehemalige Umweltminister, stehen eindeutig für eine schwarz-grüne Option. Solange die SPD solche Vorbehalte ebenfalls pflegte, konnte die FDP sicher sein, dass weder Roth noch Töpfer als Sieger aus dem Rennen hervorgingen. Politische Grundsatzüberzeugungen sprachen sowohl bei der FDP als auch bei den Grünen für den Ex-EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber.

Merkel wusste, dass der Streit um den Präsidenten das Potenzial für einen handfesten Koalitionskrach hatte. Das war aber auch SPD-Chef Sigmar Gabriel klar — deshalb ging er erneut mit Gauck in die Gespräche. Tatsächlich spitzte sich der Streit zu einer handfesten Krise zu, als die FDP sich definitiv gegen Töpfer und Huber und für Gauck entschied. Merkels Widerstand bröselte daraufhin schnell dahin. Sie sprang über ihren Schatten und trug Gauck die Präsidentschaft an. Das rettete ihr vorerst die Regierung mit den Liberalen — und ließ durch die jüngsten Festlegungen für 2013 alle Machtoptionen zu: mit der FDP, mit der SPD und mit den Grünen. Gauck, der Allparteientaugliche. Nur die Linken bleiben mit ihrer Gauck-Gegnerschaft dort, wo alle Machtstrategen sie momentan haben wollen: im Abseits.

(RP/jh-)
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