Analyse Die "Lex AfD" ist ein schlechtes Signal

Berlin · Die Koalition will nach Ostern mit ihrer Mehrheit die Geschäftsordnung des Bundestages so ändern, dass nicht mehr das älteste (AfD-)Mitglied das neu gewählte Parlament eröffnet, sondern der erfahrenste (CDU-)Abgeordnete.

"Heiterkeit und Beifall" hält das stenographische Protokoll des Bundestages fest, nachdem Konrad Adenauer am 19. Oktober 1965 am Rednerpult des Parlamentes festgestellt hat, "dass ich ganz offenbar einzig bin". Der damals 89 Jahre alte Kanzler setzte die auf die Anfänge des Parlamentarismus zurückgehende Tradition fort, wonach stets der älteste Abgeordnete einen neu gewählten Bundestag eröffnet, eine mehr oder weniger wegweisende Rede hält und die Sitzung bis zur Wahl des Parlamentspräsidenten leitet. Damit will die Koalition nun Schluss machen und nach Ostern die Geschäftsordnung entsprechend ändern. Sonst könnte ein AfD-Politiker Alterspräsident werden.

Zweimal besetzte die hessische CDU mit Ex-Forschungsminister Heinz Riesenhuber (*1.12.1935) dieses Amt. Er scheidet nun aus. Ihm hätte der Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele (* 7. 6.1939) aus Berlin nachfolgen können. Doch auch er tritt nicht erneut an. Betretene Gesichter entstanden in der Koalition, als dann der brandenburgische AfD-Chef Alexander Gauland (* 20.2.1941) als potenzieller neuer erster Redner und Akteur des nächsten Bundestages auf der Bildfläche erschien. Als der frühere Bundestagsvize Hermann-Otto Solms (* 24. 11. 1940) auf Platz drei der hessischen FDP-Landesliste verankert war, entspannte sich die Mimik. Doch nun wird klar, dass die Nummer vier der niedersächsischen AfD-Landesliste, Wilhelm von Gottberg (*30.3.1940), am 24. September wahrscheinlich ältester Abgeordneter wird.

Damit würde ein Abgeordneter Alterspräsident, der lange Jahre als CDU-Politiker und Vertriebenenfunktionär wirkte, der aber auch 2011 die Christdemokraten verließ und bei der AfD mit fragwürdigen Zitaten zum Holocaust wahrgenommen wurde. Der Stoff für einen Skandal?

Jedenfalls entsann der scheidende Bundestagspräsident Norbert Lammert des Vorschlags, künftig nicht mehr Lebens-, sondern Parlamentsjahre zum Kriterium für die Alterspräsidentschaft zu machen. "Ausreichend einhellige Erfahrung" soll die Person künftig auszeichnen. Und dafür will die Koalition mit ihrer Zweidrittelmehrheit gegen den Willen der Opposition nach Ostern die Geschäftsordnung ändern.

CDU-Generalsekretär Peter Tauber dementiert einen Zusammenhang zwischen dem Ende der Tradition und dem Anfang der AfD-Tätigkeit im Parlament. "Das ist keine Reaktion auf eine mögliche Zusammensetzung künftiger Parlamente, zumal es noch nicht sicher ist, ob die AfD wirklich in den Bundestag kommt", sagte er unserer Redaktion. Für ihn stellt sich die Frage, "ob die Aufgabe des Alterspräsidenten mehr mit dem Lebensalter oder mehr mit der parlamentarischen Erfahrung zu tun hat" - und die Antwort darauf sei für ihn "eindeutig". Deshalb unterstütze er Lammerts Vorschlag.

Für diese Sichtweise spricht, dass auch der Ältestenrat nur so heißt, tatsächlich aber nicht aus den ältesten Abgeordneten zusammengesetzt ist, sondern aus denjenigen, die kraft ihrer Funktion als zentrale Manager und Konfliktschlichter dienen können. Dafür spricht auch, dass die Person, auf die die Alterspräsidentschaft nach Änderung der Geschäftsordnung automatisch zuläuft, bereits seit 1972 ununterbrochen als Abgeordneter gearbeitet hat: Wolfgang Schäuble wird im nächsten Bundestag der einzige "Dreizehnsterner" sein - im Handbuch des Bundestages steht hinter jedem Namen für jede Wahlperiode ein Stern.

Gleichzeitig relativiert Schäubles Vita jedoch auch seine Fähigkeit, den Bundestag als typischer Parlamentarier zu repräsentieren. Denn 26 seiner 45 Jahre im Bundestag saß er auf der Regierungsbank. Und auch bei seiner Rede als Alterspräsident ist er zugleich weiterhin Bundesfinanzminister. Er hat also eine Rede für diejenigen zu halten, deren Aufgabe die Kontrolle der Regierung ist, der er zugleich selbst angehört. Sicherlich mehr als ein Schönheitsfehler. Es kommen weitere hinzu.

Da ist das historisch schlechte Beispiel. Von der Regel, dass stets das älteste Mitglied des Parlamentes die erste Sitzung eröffnet, wurde nur in einer Phase abgewichen: von 1933 bis 1945, als die Nazis den jeweils vormaligen Reichstagspräsidenten (also ihren eigenen Mann) damit betrauten.

Und da ist der negative Effekt auf Regeln, die für das Funktionieren einer parlamentarischen Demokratie unerlässlich sind, weil sie ansonsten den überparteilichen Grundkonsens infrage stellen. Die abwechselnde Leitung von Parlamentssitzungen gehört dazu. Baden-Württemberg ist mit unrühmlichem Beispiel vorangegangen, indem sich Grüne, CDU, SPD und FDP darauf verständigten, die Zahl der Landtagsvizepräsidenten auf eins zu verringern. So ist ausgerechnet die größte Oppositionspartei im Stuttgarter Landtag nicht mehr in dessen Präsidium vertreten.

Mit solchen Manövern lösen die Parteien mehr Freude als Verdruss bei der AfD aus. Denn sie gewinnt zusätzliche Stimmen aus dem Nachweis, unfair behandelt zu werden. So freute sich denn auch Gauland bereits über das Bild, das die "Altparteien" mit der "Lammert-Posse" abliefern: wie sie sich von der AfD vor sich her treiben ließen. Der Politologe Hajo Funke vermutet, dass Lammert, mögliche Gottberg-Rede-Inhalte vor Augen, Schaden vom Ansehen des Bundestages fernhalten wollte. Doch plädiert auch er gegen eine "Lex AfD", eine Spezial-Regel für die AfD.

Das ist der Kern des Problems: Warum der Bundestag, der sich als Hort des Anhörens anderer Meinungen versteht, so unsouverän mit der Entscheidung des Souveräns umgehen will. Die paar Minuten Gottberg könnten die Abgeordneten schon aushalten oder bei entgleisender Rede durch Verlassen des Saales auch ein deutliches Zeichen setzen. Diese Chance sollte sich die Koalition nicht nehmen.

(may-)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort