Mann fährt mit Auto in Menschenmenge „Passanten haben ihn festgehalten“

Berlin · Auf der trubeligen Einkaufsmeile nahe der Gedächtniskirche in Berlin steuerte am Mittwoch ein Mann ein Auto in eine Menschengruppe. Ermittlungen deuten zunächst auf psychische Beeinträchtigungen. Bei Passanten vor Ort kommen dunkle Erinnerungen hoch.

Deutschland: Amokfahrt in Berlin - Trauer am Tag danach - Fotos
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Amokfahrt in Berlin - Trauer am Tag danach

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Foto: dpa/Fabian Sommer

Es ist 10.30 Uhr an diesem Mittwoch, als die ersten Notrufe bei der Berliner Feuerwehr eingehen. Wenige Minuten vorher, berichtet Polizeisprecher Thilo Cablitz, kommt ein silberner Kleinwagen aus Richtung Bahnhof Zoo den Kurfürstendamm mit hoher Geschwindigkeit herunter, auf Höhe Rankestraße fährt ein Mann das Auto auf den Gehweg in eine Fußgängergruppe. Ein Mensch stirbt dabei, bleibt auf der Straße liegen. Der Fahrer rammt eine Säule, rast auf der Fahrbahn über die Tauentzienstraße weiter Richtung Osten und kracht rund 200 Meter weiter in das Schaufenster einer Parfümerie – nachdem er ein Auto touchierte, erneut über einen Gehweg fuhr und Menschen verletzte. Der Renault Clio steht im völlig zersörten Schaufenster, dort endet die Horrorfahrt. Bundeskanzler Olaf Scholz bezeichnte den tödlichen Vorfall als „Amoktat“. „Die grausame Amoktat an der Tauentzienstraße macht mich tief betroffen“, schrieb der SPD-Politiker am Mittwochabend bei Twitter.

Die traurige Bilanz bislang: Das Todesopfer ist eine Lehrerin aus dem nordhessischen Bad Arolsen, die mit ihrer Schülergruppe Berlin besuchte. Unter den Verletzten befinden sich zahlreiche Schülerinnen und Schüler der zehnten Klasse. Ein weiterer Lehrer der Gruppe wurde nach derzeitigem Stand schwer verletzt. Neben der getöteten Lehrerin wurden nach Angaben der Polizei von Mittwochabend 14 Menschen verletzt, mehrere von ihnen lebensbedrohlich.

Und der Fahrer? „Passanten haben ihn festgehalten“, so Polizeisprecher Cablitz. Offenbar hatte der Fahrer versucht, nach dem Einschlag ins Schaufenster zunächst zu fliehen, wie berichtet wird. Bestätigen will das die Polizei am Nachmittag noch nicht. Polizeibeamte, die in der Nähe waren, sollen den Mann dann sofort festgenommen haben. Der Fahrer soll ein 29-jähriger Deutsch-Armenier sein und laut Polizei in Berlin leben. Videos kursieren im Netz von seiner Festnahme. Sie zeigen einen dicklichen Mann mit Glatze in gelbem T-Shirt, Jogginghose, rote Turnschuhe. Er lässt sich anstandslos von Polizisten abführen, in Handschellen mit einer Decke über dem Kopf.

Die Polizei prüft, ob es sich um einen Unfall, einen medizinischen Notfall oder um eine vorsätzliche Tat handelt. Ein Sprecher der Berliner Polizei sagte der Deutschen Presse-Agentur am Abend: „Es gibt Indizien, die die Theorie eines psychischen Ausnahmezustands stützen.“ Es handle sich aber um eine von mehreren möglichen Versionen, daher ermittele man in alle Richtungen weiter. Polizeipräsidentin Barbara Slowik hatte zuvor im RBB ebenfalls die Offenheit der Ermittlungen betont: Man schließe im Moment „gar nichts“ aus, sagte sie. Die Ermittlungen würden von einer Mordkommission geführt. Unter anderem wurde die Wohnung des Fahrers in Charlottenburg durchsucht. Viel versprechen sich die Ermittler auch von Videos und Fotos von Zeugen.

Die Berliner Senatsverwaltung für Inneres zitierte Innensenatorin Iris Spranger (SPD) am Abend bei Twitter mit den Worten: „Bin wieder in meiner Lagezentrale: Nach neuesten Informationen stellt sich das heutige Geschehen an der #Tauentzienstrasse als eine Amoktat eines psychisch beeinträchtigten Menschen dar.“ Mehr Details dazu nannte sie nicht.

Berichte über ein Bekennerschreiben, das in dem Tatfahrzeug entdeckt wurde, wiesen sowohl Innensenatorin Spranger wie auch Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) zurück. In dem Auto seien jedoch Plakate mit Äußerungen „über die Türkei“ entdeckt worden, sagte Spranger. Giffey sprach von „zwei Plakaten“ auf der Rückbank des Fahrzeugs. Aber es sei noch nicht geklärt, „ob das im Zusammenhang mit der Tat steht, wem die gehören und ob dahinter eine politische Aussage steht“, sagte sie im ZDF. In den ersten Vernehmungen des Mannes habe man noch keine klaren Aussagen bekommen.

Der Fahrer war nach dpa-Informationen mit einem Auto unterwegs, das seiner älteren Schwester gehört. Er soll der Polizei wegen mehrerer Delikte bekannt gewesen sein, jedoch nicht in Zusammenhang mit Extremismus. Die Polizei verwies auf laufende Ermittlungen.

Doch die werden angesichts des Orts auch von Emotionen und dunklen Erinnerungen begleitet. Ängste werden wach. „Das ist doch kein Zufall“, sagt ein Passant an einer Absperrung. Die Polizei hält sich aber bewusst bedeckt, Sprecher Cablitz warnt vor Spekulationen zur Motivlage des Fahrers. Denn der Unfallort befindet sich südwestlich von der Gedächtniskirche am Breitscheidplatz in Berlin-Charlottenburg. Dort war auf der nordwestlichen Seite des Platzes im Dezember 2016 ein islamistischer Attentäter in einen Weihnachtsmarkt gefahren. Damals starben zwölf Menschen, mehr als 70 wurden verletzt.

Und so wimmelt es nach dem Vorfall an diesem Mittwochvormittag schnell von Einsatzkräften der Polizei und Feuerwehr an der beliebten Einkaufsmeile. Rund 200 Polizisten und Rettungskräfte kümmern sich um die Verletzen, sichern Spuren, vernehmen Zeugen, ermitteln den Hergang des Vorfalls. Ein Rettungshubschrauber landet in der Mitte der Tauentzienstraße, ein Polizeihubschrauber kreist in der Luft, um den Ermittlern einen Überblick von oben zu verschaffen. Die Straßen sind weiträumig abgeriegelt, Polizeiwagen versperren den Blick auf den Tatort. Auch Stunden später sichert die Polizei noch vor Ort Beweise. Nach Angaben der Beamten dort soll die Beweissicherung bis in den späten Mittwochabend laufen. Ziel sei es, die Straße wieder freizugeben. Die Untersuchungen vor Ort werden den Ermittlern zufolge am Donnerstag weitergehen.

Die Gegend, in der sich der tödliche Vorfall ereignete, ist wegen der vielen Geschäfte, Cafés und Sehenswürdigkeiten oft sehr belebt. Sie ist ein Anziehungspunkt für Touristen aus dem In- und Ausland. In der Nähe befinden sich zum Beispiel der Zoologische Garten, der Bahnhof Zoo und das Kaufhaus des Westens (KaDeWe).

In Berlin weckt der Vorfall aber auch Erinnerungen an den Tod von vier Menschen im Bezirk Mitte im Jahr 2019: Ein Mann war damals mit seinem schweren Wagen von der Invalidenstraße abgekommen. Der SUV überschlug sich und tötete auf dem Gehweg einen Dreijährigen und seine Großmutter sowie zwei Männer. Im Februar 2022 war der Fahrer zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden. Er war trotz einer Epilepsie-Erkrankung und einer Gehirnoperation einen Monat vor dem Unfall Auto gefahren.

Am Nachmittag äußerte sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bestürzt und sprach Angehörigen und Hinterbliebenen sein tiefes Mitgefühl aus. Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) besuchte den Unglücksort. „Wir werden alles dafür tun, den Betroffenen zu helfen“, sagte sie. Ebenso werde alles dafür getan, den Hergang aufzuklären. „Ich bin tief betroffen von diesem schlimmen Ereignis heute Vormittag“, sagte Giffey und dankte den Einsatzkräften.

Ein Polizist sichert Spuren an einem zerbrochenen Schaufenster, in dem nach einem Zwischenfall ein Auto steckt.

Ein Polizist sichert Spuren an einem zerbrochenen Schaufenster, in dem nach einem Zwischenfall ein Auto steckt.

Foto: dpa/Fabian Sommer
Auto steuert in Menschenmenge: Ein Todesopfer und mehrere Schwerverletzte in Berlin
Foto: grafik

Berlins Innensenatorin Iris Spranger bezeichnete die Todesfahrt am Mittwochabend als „Amoktat“. „Nach neuesten Informationen stellt sich das heutige Geschehen in der Tauentzienstraße als eine Amoktat eines psychisch beeinträchtigten Menschen dar“, erklärte Spranger am Abend im Onlinedienst Twitter.

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