Drohende Radikalisierung Aus dem Gefängnis in den Dschihad

Berlin · In den deutschen Gefängnissen drohen Islamisten radikalisiert zu werden. Deshalb soll es nun Aussteigerprogramme geben.

 Propaganda-Videos, wie hier aus Syrien, spielen für die Rekrutierung von Islamisten eine wichtige Rolle.

Propaganda-Videos, wie hier aus Syrien, spielen für die Rekrutierung von Islamisten eine wichtige Rolle.

Foto: dpa

Festnahmen in Dinslaken, in Düsseldorf, in Wolfsburg, in Berlin: Fast täglich werden Verdächtige aus der mutmaßlich islamistisch-terroristischen Szene abgeführt, in Gewahrsam genommen, weggesperrt. Die Bürger verbinden diese Nachricht mit der Vorstellung, dass Deutschland damit wieder ein kleines Stück sicherer geworden ist. Doch das Wegsperren schafft nur eine scheinbare Sicherheit. Tatsächlich drohen Gefängnisse zu Nährböden neuen Hasses zu werden. Ein Extremist gehe ins Gefängnis, aber fünf kämen wieder raus, ist von Experten zu hören.

Das ist keine Theorie. Der Pariser Attentäter Chérif Kouachi war als 22-Jähriger bei dem Versuch festgenommen worden, über Syrien in den Irak zu reisen, wo er als Dschihadist kämpfen wollte. Drei Jahre Haft, lautete das Urteil, davon 18 Monate auf Bewährung. Im Gefängnis soll er dann den Islamisten Djamel Berghal kennengelernt haben, der zehn Jahre wegen Anschlagsvorbereitungen abzusitzen hatte. Unter dessen Einfluss soll sich Kouachi radikalisiert haben. Waffenausbildungen folgten offensichtlich schon in Frankreich.

Mehr als 600 Islamisten aus Deutschland in Dschihad gezogen

In Deutschland sieht sich die Bundesanwaltschaft vor einer "noch nicht da gewesenen Verfahrenswelle". Bereits zur Jahreswende liefen Verfahren gegen 83 Beschuldigte, zusätzlich weit mehr als 100 Ermittlungsverfahren von Staatsanwaltschaften in den Bundesländern. Schon jetzt sitzen Hunderte Islamismusverdächtige in Haft. Mehr als 600 Islamisten sind von Deutschland in den Dschihad, den "Heiligen Krieg", nach Syrien und in den Irak gezogen, auch hier wird noch mit Hunderten von Rückkehrern gerechnet.

"Obwohl viele Justizvollzugsanstalten vorbildlich auf die Betreuung achten, zeigt die Realität doch, dass gerade mit Blick auf islamische Gefangene noch viel, viel mehr gemacht werden muss", sagt Marcus Rautenberg, Chef des Verbandes psychologischer Psychotherapeuten. Er hat selbst jahrelang als Gefängnispsychologe gearbeitet und weiß, wie sehr das Zusammenspiel aus Situation und Persönlichkeit Islamisten in die Hände spielen kann.

Chronologie des Terrors von Paris
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Straftäter hätten einen "Mangel an Normen und Wertebewusstsein und den Bezug zur Gesellschaft verloren", schildert Rautenberg. Wer enttäuscht sei und vielleicht wegen seiner eigenen Situation voller Hass stecke, der werde "natürlich anfällig für radikale Positionen". Deshalb müsse das Personal immer ein Auge auf die "Entstehung subkultureller Strukturen" haben. Das gelte ganz besonders für Entwicklungen, in denen "islamistische Scharfmacher Gruppen um sich bilden und Anführer werden", erläutert der Psychologe. Denn dann könne es passieren, "dass die radikalisierten Islamisten am Tag ihrer Entlassung von einem islamistischen Netzwerk vor den Gefängnistoren schon erwartet werden".

SPD-Politiker will Aussteiger-Programme für Gefängnisse

Das erinnert an das Phänomen rechtsextremistischer Unterstützer, die den Behörden rund um die Gefängnisse vor einigen Jahren Sorgen bereiteten. Auch hier liefen tendenziell rechtem Gedankengut zuneigende Häftlinge Gefahr, von inhaftierten Wortführern stramm auf Linie gebracht zu werden. Tatsächlich haben die Sicherheitsbehörden nun auch in der islamistischen Szene Handbücher sicherstellen können, in denen es um Strategien geht, hinter Gittern erfolgreich weitere islamistische Kämpfer zu gewinnen.

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Foto: afp, FETHI BELAID

Und so will die Politik ähnlich reagieren, wie sie es mit Schwerpunktprogrammen gegen rechtsextremistische Bestrebungen in Gefängnissen getan hat: "Es ist wichtig, in den Justizvollzugsanstalten Islamisten-Aussteigerprogramme aufzulegen, wie wir es mit Erfolg auch bei rechtsextremistischen Gefangenen gemacht haben", sagt SPD-Innenexperte Burkhard Lischka. "Wenn wir Islamisten schon mal für längere Zeit in Haft haben, dann müssen wir die Zeit auch gut nutzen, um den Wettlauf mit der salafistischen und islamistischen Szene zu gewinnen", gibt Lischka zu bedenken.

Der SPD-Politiker zeigt sich auch aufgeschlossen gegenüber der in einigen deutschen Großstädten schon seit Jahren geübten Praxis, islamische Geistliche in die Betreuung der Gefangenen einzubinden. "Es kommt darauf an, sich mit der verhängnisvollen Fehlinterpretation des religiösen Weltbildes auseinanderzusetzen und den Scharfmachern den Boden zu entziehen." Deshalb sollten nach Lischkas Überzeugung "muslimische Geistliche in den Haftanstalten eine stärkere Rolle spielen".

(may-)
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