Kehrseite des Verzichtes auf Kernkraft Atomausstieg reißt Klimaziele

Berlin · Analyse Das nahende Ende der Kernkraft in Deutschland hat die Gesellschaft befriedet. Doch die Empörung über zu geringe Fortschritte bei der CO2-Einsparung hat genau mit diesem Thema zu tun. Viele Länder bauen neue Meiler.

 Abriss des Kühlturmes vom Kernkraftwerk in Mülheim-Kärlich.

Abriss des Kühlturmes vom Kernkraftwerk in Mülheim-Kärlich.

Foto: dpa/Thomas Frey

Die heute für den Klimaschutz streikenden Schüler waren zum großen Teil noch nicht geboren, als sich die Regierung 2002 mit guten Gefühlen darauf festlegte, dass Deutschland im Jahr 2020 mindestens 40 Prozent weniger Treibhausgase produzieren würde als 1990. So lang hin schien das damals noch zu sein. Als es noch sechs Jahre bis zum Zieldatum waren, kam noch ein kräftiger Schluck aus der Pulle guter Vorsätze dazu: Nun wollte Deutschland bis 2030 mindestens 55 Prozent schaffen und bis 2040 mindestens 70 Prozent. Bis zum Erreichen der ersten Hürde dauert es nun kein Jahr mehr. Und längst steht fest: Deutschland wird sie reißen.

Als Konsequenz verlangen die empörten Klimaschützer in Deutschland einen schnelleren Ausstieg aus der Kohleverstromung. Auf einen anderen Zusammenhang verweist die World Nuclear Association, die Lobbyorganisation der Kernenergieindustrie: Hätte Deutschland in diesem Jahrzehnt statt der Kernkraftwerke entsprechend viel Kapazität von Kohlekraftwerken stillgelegt, hätte das Land seine Klimaziele locker erreichen können. Vermutlich werden nächstes Jahr noch 66 Millionen Tonnen CO2 zu viel in die Umwelt gehen; mit mehr Kernkraft statt Kohle wären es mindestens 80 Millionen weniger gewesen.

Genau das war das Konzept im Wahlkampf 2009, als CDU, CSU und FDP den von Rot-Grün beschlossenen Atomausstieg in eine Laufzeitverlängerung umkehren wollten. Das Schlagwort hieß „Brückentechnologie“. Sie bestand aus drei Elementen: erneuerbare Energien ausbauen, keine neuen Atomkraftwerke bauen, aber die schon gebauten etwas länger nutzen, damit vorrangig Kohlekraftwerke vom Netz gehen können, bis aus Wind, Sonne und Biogas mehr Strom produziert wird.

Damit gewann Schwarz-Gelb die Wahl, so kam es in den Koalitionsvertrag, und so wurde es am 28. Oktober 2010 beschlossen. Die sieben älteren Reaktoren sollten noch acht Jahre länger Strom produzieren, die zehn neueren noch 14 Jahre. Um diese Wende schnell hinzukriegen, verzichtete Schwarz-Gelb darauf, eine mühsame Verständigung mit den Bundesländern zu organisieren. Deshalb hagelte es Verfassungsklagen. Die letzte wurde Anfang März 2011 beigelegt. Acht Tage später war die Welt aus deutscher Sicht eine andere.

Als die Fernsehbilder berstende Mauern am Kernkraftwerk in Fukushima zeigten, wusste Angela Merkel, die erste Physikerin im Kanzleramt, dass ihre Argumentation gegen die Gefühle nicht mehr ankommen würde. Der damalige Umweltminister Norbert Röttgen (CDU), fasste es in die Worte, dass die Welt erstmals erlebte, wie auch ein „klitzekleines Restrisiko Realität“ werden könne. Das gerade beschlossene Gesetz wurde ausgesetzt und dann abermals gedreht: Nun kam der Atomausstieg noch schneller.

Von den damals 17 Meilern sind nur noch sieben am Netz. Ende des Jahres sind es noch sechs, Ende 2021 noch drei, und Ende 2022 wird sich Deutschland von der Liste der Länder streichen, die auf die friedliche Nutzung der Kernenergie setzen. streichen. Wenn die deutsche Art der Energiepolitik einem globalen Trend entspräche, wären die Debatten über Deutschlands Scheitern bei den Klimazielen nicht so heftig. Fast flehentlich bat Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) vergangene Woche im Bundestag darum, doch endlich die „Geisterdebatte“ über eine Renaissance der Kernkraft zu beenden.

Doch sie sprach vor dem falschen Publikum. Bis auf die AfD und ein paar lieber nur hinter vorgehaltener Hand darüber theoretisierende Unions- und FDP-Abgeordnete will kaum einer im Parlament das Wort „Laufzeitverlängerung“ in den Mund nehmen. Das sieht international anders aus. Da geht es nicht darum, wie lange die 449 Atomkraftwerke am Netz bleiben, sondern wann 54 weitere fertig gebaut sind. Und auch in Europa wird weniger über einen Ausstieg als einen weiteren Einstieg in die Kernkraft nachgedacht, so etwa in Großbritannien, Polen, Finnland, Ungarn, Rumänien und Tschechien. China will seinen 45 betriebenen Atomkraftwerken sogar 43 weitere hinzuzufügen.

Das alles erhöht den Druck auf Deutschland, das sich schließlich verpflichtet hatte, zum EU-Klimaziel seinen Anteil zu leisten – - und nun nicht liefert. Dabei hatten einige der parallel ergriffenen Maßnahmen durchaus Erfolg. So der Vorsatz, den Strom effizienter einzusetzen. Tatsächlich klappt das: Jahr für Jahr wird für die Produktion derselben Menge Güter ein Prozent weniger Strom benötigt. Das sollte den Gesamtstromverbrauch bis 2020 um zehn Prozent gegenüber 2008 senken. Doch der Wirtschaftsboom kam dazwischen: Statt deutlich zu sinken, bleibt der Verbrauch nach der jüngsten Prognose der Energiewirtschaft auf unverändert hohem Niveau. Auch diese für 2020 gesetzte Hürde wird Deutschland reißen.

Schon zieht die konservative Werteunion als Konsequenz aus dem vom Klimaschutz beherrschten Europawahlkampf die Konsequenz und will wieder die „Meinungsführerschaft“ beim Erreichen der Klimaziele übernehmen: übernehmen und deshalb die Kernkraftwerke sollen länger laufen. zu lassen. Für einen Tag konnten sich die Freunde der Atomenergie sogar auf die prominenteste Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg berufen. Die verwies Ende März bei Facebook auf den Weltklimarat, wonach die Kernenergie Teil einer großen, neuen CO2-freien Energielösung sein könne. Die Reaktionen waren so heftig, dass sie schnell ein „Ich persönlich bin gegen Atomkraft“ in den Vordergrund stellte. Diese sei zu gefährlich, zu teuer und zu zeitaufwendig. Das konnte die Irritationen in Deutschland immerhin dämpfen. Hier kommt freilich nächstes Jahr eine Formel zum Tragen: Wer A wie Atomausstieg sagt, muss sich derzeit noch auf B wie Betrübnis über das Scheitern bei Klimazielen einstellen.

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