Einschätzung der Nationalen Armutskonferenz "Armut ist in Deutschland politisch gewollt"

Berlin · Wer arm ist, bekommt in Deutschland immer weniger Chancen, seiner Armut zu entfliehen. Es gebe seit einigen Jahren eine Tendenz zur Verfestigung von Armut, geht aus dem Bericht der Nationalen Armutskonferenz hervor, der am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde.

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Foto: ddp, ddp

Armut wird in Deutschland nach Darstellung der Nationalen Armutskonferenz (nak) von der Politik verordnet. Es seien die Gesetze, die Niedriglöhne ermöglichten und die einen Hartz-IV-Regelsatz von derzeit 374 Euro festlegten, "der arm macht und nicht aus der Armut heraushilft", sagte die stellvertretende nak-Sprecherin Michaela Hofmann am Dienstag in Berlin.

"Armut ist politisch gewollt." Die Zahl der von relativer Armut Betroffenen habe sich in den vergangenen Jahren zwar nicht mehr erhöht, sondern sei konstant bei 14 bis 16 Prozent der Bevölkerung geblieben. Das sind zwischen 11,5 und 13 Millionen Menschen.

Dies sei aber kein Erfolg, "sondern ein Skandal, dass sich die Armutszahl auf einem so hohen Niveau eingependelt" habe. Als arm gilt, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. Die Nationale Armutskonferenz ist ein Zusammenschluss von Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Gewerkschaften und Betroffeneneinrichtungen.

Die nak ging vor die Presse, weil die Bundesregierung ursprünglich am Mittwoch im Kabinett ihren umstrittenen 4. Armuts- und Reichtumsbericht verabschieden wollte. Dies wurde aber auf Anfang nächsten Jahres verschoben. Der Regierungsbericht hatte Schlagzeilen gemacht, weil in der Ressortabstimmung auf Betreiben des Wirtschaftsministeriums kritische Passagen zum Auseinanderdriften von Arm und Reich gestrichen wurden.

Die Armutskonferenz warf der Regierung vor, der Bericht trage noch mehr als in der ersten Fassung zur Verschleierung der sozialen Situation bei. So seien etwa kritische Einschätzungen zur Situation von Alleinstehenden gestrichen worden, sagte nak-Geschäftsführerin Carola Schmidt.

Auch sie betonte: "Armut ist in Deutschland eine politische Entscheidung." Völlig unerwähnt bleibe in dem Bericht, dass sich die Armut verfestigt habe, sagte der Armutsforscher Walter Hanesch von der Hochschule Darmstadt: "Die Chancen haben sich entscheidend verschlechtert, aus der Armut wieder entkommen zu können."

Auch auf die Situation der prekär Beschäftigten und der Arbeitnehmern im Niedriglohnbereich werde nicht eingegangen. "Ebenso bleibt ausgeblendet, dass das Risiko der Armut durch Arbeitslosigkeit zunehmend ersetzt wird durch Armut trotz Erwerbstätigkeit", kritisierte Hanesch. Die Regierung gehe auch mit keinem Wort darauf ein, dass in den kommenden Jahren "eine dramatische Zunahme der Einkommensarmut im Alter absehbar" sei.

Zur Bekämpfung von Altersarmut fordert die nak flächendeckend gesetzliche Mindestlöhne. "Mini-Löhne heute führen zu Mini-Renten morgen." Außerdem müsse es einen umfassenden "armutspräventiven Ansatz" in der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Familienpolitik geben, der auch für ausreichende Beiträge in die Rentenversicherung sorge.

"Sozialversicherte, existenzsichernde Erwerbsarbeit im ersten und zweiten Arbeitsmarkt muss mit einem bundesweit bedarfsgerechten Ausbau von Betreuungsangeboten einhergehen", verlangte die Konferenz.

Erziehungs- und Pflegezeiten sowie Phasen der Erwerbslosigkeit müssten für die Rente "beitragsfähig" gestaltet werden. Letztendlich schütze nur eine gesetzliche Mindestrente effektiv vor Altersarmut. Armut kann auf verschiedene Arten gemessen werden. Manche Organisationen nutzen relative Armutsmaße im Verhältnis zum Durchschnittseinkommen, manche definieren Armut nach absoluten Zahlen.

Weltbank und UN bezeichnen jemanden als arm, der kaufkraftbereinigt weniger als 1,25 US-Dollar am Tag zur Verfügung hat. Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden zählt diejenigen als armutsgefährdet, die weniger als 60 Prozent des nationalen Durchschnitts (Median) verdienen.

In Deutschland liegt die Grenze für Singles damit bei netto 952 Euro im Monat. Auch die EU-Statistiker von Eurostat und die OECD ziehen die 60-Prozent-Schwelle heran.

(rtr/dpa/APD/nbe)
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