Anne-Will-Talk über Flüchtlinge "Da kommen eine Million Lösungen in unser Land"

Düsseldorf/Berlin · Kippt die Stimmung gegen Flüchtlinge? Diese Frage wollte Anne Will mit ihren Gästen diskutieren. Was der Talkmasterin mit ihrer Sendung gelang, ist aber viel mehr: Sie hat gezeigt, dass eine differenzierte Diskussion im Fernsehen doch noch möglich ist.

 Sie hatte die Diskussion bestens im Griff: Anne Will mit ihren Gästen.

Sie hatte die Diskussion bestens im Griff: Anne Will mit ihren Gästen.

Foto: Screenshot/NDR

Darum ging's: Flüchtlinge

Flüchtlinge sind weiterhin das große Thema in Deutschland — und damit auch in Talkshows. Anne Will legte den Fokus dehalb auf die derzeit vielerorts diskutierten Verbote gegen Flüchtlinge. Die nehmen in Deutschland immer weiter zu. Zuletzt sorgte die Stadt Freiburg mit einem Discoverbot für Schlagzeilen. Die Frage der Sendung lautete also wenig überraschend: "Misstrauen, Ängste, Verbote — Kippt die Stimmung gegen Flüchtlinge?"

Darum ging's wirklich: Eine differenzierte Debatte

Lange gab es keine so facettenreiche Gesprächsrunde mehr im deutschen Fernsehen. Anstatt populistische Floskeln zu kloppen oder sich ausgelassen zu zoffen, diskutierten die Gäste bei Anne Will in einem sachlichen Ton miteinander. Pauschalisierungen wurden kritisiert, Probleme angesprochen und mögliche Lösungen intensiv debattiert.

Die Runde:

Der Grüne-Oberbürgermeister Dieter Salomon reiste aus Freiburg an, um über die Situation in seiner Stadt zu sprechen. Die Stimmung sei nicht gekippt, betonte Salomon. Er sprach sich gegen Vorverurteilungen aus und forderte mehr Polizei.

Die Publizistin Anke Domscheit-Berg hat Flüchtlinge bei sich aufgenommen und wehrte sich gegen den ihrer Meinung nach vorherrschenden Generalverdacht. Den kritisierte zwar auch CDU-Politiker Jens Spahn, driftete aber teilweise selbst in genau diese Richtung ab. Rechtsanwalt Mehmet Gürcan Daimagüler schoss sich immer wieder auf Spahn ein und setzte mit knackigen Aussagen Akzente.

Frontverlauf:

In einem waren sich alle Teilnehmer einig: Pauschalisierungen führen zu nichts. Am deutlichsten machte das Mehmet Gürcan Daimagüler: "Der Nordafrikaner, der Marokkaner, der Flüchtling — das gibt es einfach nicht." Man müsse den Menschen als Menschen wahrnehmen, das zeichne einen Rechtsstaat aus. Dem stimmte auch Grünen-OB Salomon zu, der ein pauschales Disco-Verbot für Flüchtlinge verurteilte. "Die Polizei hat keine Erkenntnisse darüber, dass die Flüchtlinge krimineller sind, als die Deutschen die schon länger da waren", sagte Salomon. Außerdem könne man Gruppen nicht einfach so diskriminieren. Doch genau das werde gemacht, meint Anke Domscheit-Berg. Sie sprach davon, dass die öffentliche Debatte von Pauschalisierung geprägt werde.

Jens Spahn fiel mit seiner Haltung ein bisschen aus der Runde. Seiner Meinung nach sei es unabdingbar, kulturelle Unterschiede zu benennen und zu besprechen. Als Beispiel nannte Spahn das unterschiedliche Frauenbild. Er legte außerdem Wert darauf Pauschalverurteilungen von "einer Beschreibung der Herausforderung" zu differenzieren — das gehöre zu einer ehrlichen Analyse dazu.

Duell des Abends: Daimagüler vs. Spahn

Mehmet Gürcan Daimagüler wechselte in seinen Wortwechseln mit Jens Spahn immer wieder zwischen "Du" und "Sie".

Das allein war irgendwie unterhaltsam. In der Sache blieb sich der Rechtsanwalt aber treu. "Ich bin glücklich und froh, dass diese Menschen hier sind", sagte Daimagüler mit Blick auf die Flüchtlinge. Spahn verurteilte er immer wieder für dessen Pauschalisierungen, von denen der aber nichts wissen wollte. Die Kernaussage des CDU-Mannes: "Wir sind nicht ehrlich in dem, was wir in der Integration leisten müssen — und zwar von beiden Seiten." Ehrlichkeit bedeutet für ihn immer wieder zu betonen, dass es krasse kulturelle Unterschiede gibt.

Stärkster Auftritt: Mehmet Gürcan Daimagüler

Daimagüler traf mit seinen Aussagen den Kern der Debatte. "Ich glaube, wir verlieren die Gutmenschlichkeit", warnte er. "Das gute Deutschland ist das leise Deutschland. Die, die es gut meinen, schreiben keine E-Mails — die Bösen, die tun es." Er verurteilte den Hass im Netz und betonte, dass Integration kein Multi-Kulti-Fest sei, sondern harte Arbeit.

Hervorzuheben ist auch Anke Domscheit-Berg. Sie kritisierte das deutsche Strafrecht mit Blick auf die sexuellen Übergriffe in Köln: "Wir erfüllen nichtmal die Istanbul-Konvention nach der ein Nein, ein Nein heißt." Allerdings verfehlte sie die Debatte an einigen Stellen und schoss sich stattdessen auf den ihrer Meinung nach allgemein vorherrschenden Sexismus in Deutschland ein. Die Publizistin kritisierte auch die Verschärfung des Familiennachzugs. "Soziale Isolation macht Menschen verzweifelter", sagte Domscheit-Berg und forderte einen Integrationsausschuss. "Dann schaffen wir das auch."

Satz des Abends:

"Da kommen nicht nur eine Million Probleme — da kommen eine Million Lösungen in unser Land, die alle mitschaffen können, dieses Land weiterzuentwickeln", sagte Anke Domscheit-Berg und erntete dafür viel Applaus.

Erkenntnis des Abends:

Es geht doch! Vier Menschen mit unterschiedlichen Meinungen sitzen in einer Runde und diskutieren sachlich über Flüchtlinge. Das ist vor allem der Moderatorin zu verdanken: Anne Will fiel kaum auf und doch hatte sie die Debatte von Anfang bis Ende bestens im Griff. Ihre pointierten Fragen waren der unsichtbare rote Faden, der die Diskussion so unaufgeregt und wertvoll machte. Das ist die Qualität, die ein Sonntagstalk braucht.

(gol)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort