Annalena Baerbock im Interview "Als Politikerin und Mutter bricht es mir das Herz"

Berlin · Die mögliche neue Grünen-Chefin Annalena Baerbock kritisiert den restriktiven Kurs einer möglichen großen Koalition beim Familiennachzug für Flüchtlinge. Im Interview mit unserer Redaktion zeigt sie sich offen für einen Jamaika-Neustart.

 Annalena Baerbock (Archiv).

Annalena Baerbock (Archiv).

Foto: Soeren Stache/dpa

Die mögliche neue Grünen-Chefin Annalena Baerbock kritisiert den restriktiven Kurs einer möglichen großen Koalition beim Familiennachzug für Flüchtlinge. Im Interview mit unserer Redaktion zeigt sie sich offen für einen Jamaika-Neustart.

Annalena Baerbock Frauen an der Spitze zu haben, das ist schon immer Teil unserer Identität. Bei uns gilt: die Hälfte der Macht den Frauen. Mindestens. Eine weibliche Doppelspitze wäre theoretisch also möglich und für uns nichts Neues. Ich freue mich wirklich sehr, dass mit Anja Piels Kandidatur das Rennen um unseren Bundesvorstand nun noch stärker von Frauen geprägt wird. In Zeiten, in denen von 709 Bundestagsabgeordnete nur 219 Frauen sind, ist das auch ein wichtiges gesellschaftliches und emanzipatorisches Signal.

Also präferieren Sie eine weibliche Doppelspitze?

Baerbock Als ich meinen Hut in den Ring geworfen habe, habe ich bewusst gesagt: ich halte nichts davon, vorher auszuklamüsern, mit wem wer wie antritt. Innerparteiliche Demokratie bedeutet für mich Auswahl zu haben und Spannung zu erzeugen. Ich kandidiere mit meinen Themen und meiner Art Politik zu machen. Ich trete auf dem Frauenplatz an und die Delegieren entscheiden mit welchem Team. Und zum Team zählen ja nicht nur die beiden Vorsitzenden, die in den nächsten Jahren, dieses Land und unser Europa ökologischer, gerechter und weltoffener machen wollen.

Robert Habeck würde gerne für eine Übergangszeit Minister in Schleswig-Holstein bleiben, wenn er denn Parteichef würde. Warum sollte ihm die Basis den Wunsch erfüllen?

Baerbock Die Basis muss niemandem einen persönlichen Wunsch erfüllen. Es liegen zahlreiche Vorschläge von Kreisverbänden und Einzelmitgliedern vor, wie man damit umgehen kann, dass sich erstmalig jemand nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis aus einem aktiven Ministeramt heraus für den Parteivorsitz bewirbt. Und der Parteitag wird klären, ob es sinnvoll ist, die bisherige Regelung um eine Übergangszeit zu ergänzen und wenn ja, wie lang die dann ist.

Aber Sie wissen doch: Basis ist Boss!

Baerbock Richtig. Das unterscheidet uns wirklich stark von anderen Parteien. Deswegen ist es nun ja auch total nachvollziehbar, dass viele verschiedene Vorschläge diskutiert werden, die sich in Bezug auf eine Übergangszeit unterscheiden. Zu welcher Regelung man kommt, das entscheidet die Mehrheit des Parteitages und dann wird dieses Ergebnis auch breit getragen werden.

Was wäre aus Ihrer Sicht denn eine gute Lösung?

Baerbock Wie Sie selbst sagen. Die Basis ist Boss. Und das ist auch gut so.

Muss für eine saubere Lösung das Grünen-Statut geändert werden?

Baerbock Alle Anträge, die jetzt vorliegen, sind Anträge zur Satzungsänderung. Und wenn eine Mehrheit der Delegierten die Satzung nicht ändern will…

…bleibt Robert Habeck Umweltminister in Schleswig-Holstein…

Baerbock … werden sie Änderungsanträgen einfach nicht zustimmen. Ich bin mir sicher, der Parteitag trifft eine weise Entscheidung. Zentral ist für mich, dass wir uns ab Montag nach der Wahl als Gesamtpartei voll in die gesellschaftliche Debatte stürzen, denn die Zeiten sind politisch viel zu stürmisch, um als Grüne um sich selbst zu kreisen. Die Leute wollen wissen, mit welchen Ideen die Grünen das Land gestalten wollen.

Wären die Grünen bereit, Jamaika noch einmal zu sondieren, wenn es mit der Groko nicht klappt?

Baerbock Das bleibt derzeit eine sehr theoretische Frage. Fakt ist, dass die SPD nun auf ihrem Sonderparteitag am Sonntag am Zug ist zu entscheiden, ob sie eine Fortführung der Groko möchte. Wir haben vor und nach der Wahl gesagt, dass wir für Gespräche immer offen sind. Und daran hat sich nichts geändert.

Gibt es ein Szenario, in dem Sie die Grünen als Teil einer Minderheitsregierung an der Seite der Union sehen, wenn CDU und CSU auf die Grünen zukämen

Baerbock Eine Minderheitsregierung hat theoretisch einigen Charme. Aber sie erscheint mir derzeit nicht besonders realistisch. Das haben wir ja erlebt, als wir direkt nach dem Scheitern von Jamaika Angebote zur fraktionsübergreifenden Kooperation eingebracht haben und auf keine wirkliche Resonanz stießen.

Union und SPD haben ein Sondierungspapier vorgelegt. Darin geben sie das Klimaziel 2020 de facto auf. Ist es nicht mehr erreichbar?

Baerbock Die CO2-Emissionen sind in den letzten neun Jahren nicht gefallen. Eine klimapolitische Bankrotterklärung für Union und SPD und Ursache dessen, dass nun so eine Riesenlücke zum 2020-Ziel klafft. Es zeigt auch: Die Zeit des Handelns ist jetzt! Das Klimaziel einfach aufzuschieben, wäre auch europapolitisch fatal, denn das deutsche Klimaziel ist Teil der gemeinsamen europäischen Klimaschutzarchitektur. Das kann man nicht mal einfach so unter den Tisch fallen lassen.

Was müsste man also jetzt tun?

Baerbock Es braucht Klima-Sofortmaßnahmen. Im Mittelpunkt dessen muss der schrittweise Kohleausstieg, also die Abschaltung der dreckigsten Kohleblöcke stehen. Dass das nun nicht kommt, sondern der Kohleausstieg stattdessen erst mal in eine Kommission vertagt wird, zeigt was für einem riesengroßen Unterschied es macht, ob die Grünen mit am Verhandlungstisch sitzen oder nicht.

Wie hätten Sie das hinbekommen, ohne dass die Stromkonzerne vom Staat entschädigt worden wären?

Baerbock Indem wir ein Kohleausstiegsgesetz auf den Weg gebracht hätten. Deswegen hatten wir ja auch so heftig dafür gekämpft, dass acht bis zehn Gigawatt Kohlestromkapazität, je nach Anteil Braun-und Steinkohle, abgeschaltet werden. Die Union hatte sich auf sieben Gigawatt eingelassen. Dass nun in den nächsten Jahren gar nichts vom Netz gehen soll, zeigt auch, wo die SPD hier steht. Ohne einen gesetzlich verankerten Kohleausstiegsplan laufen wir aber auch Gefahr, dass die Kohlekonzerne von heute auf morgen dicht machen, wenn ihr Geschäft nicht mehr profitabel genug ist. Das ist das Gegenteil eines sozialverträglichen und schrittweisen Ausstieges. Es ist außerdem ein ungeheures Risiko für die Regionen, die dann auf den Umweltschäden und Folgekosten der Kohleenergie sitzen bleiben könnten. Die heutigen Rückstellungen sind ja nicht insolvenzfest. Daher fordere ich: Die Rückstellungen zur Behebung von Kohleschäden müssen in einen öffentlichen Fonds, damit diese Gelder gesichert sind und nicht die Steuerzahler auf den Kosten sitzen bleiben, wenn das Kohlezeitalter zu Ende geht.

Nun sind die Grünen leider raus aus dem politischen Spiel. Oder werden Sie im Bundesrat Macht entfalten, etwa bei der Frage der Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsländer?

Baerbock Natürlich werden wir Grünen zukünftig nicht nur im Bundestag, sondern auch über den Bundesrat weiter leidenschaftlich gerade auch für eine humane Flüchtlingspolitik streiten. Die jetzt von Union und SPD geplante pauschale Aufnahme aller Länder mit einer Schutzquote von lediglich fünf Prozent in die Liste der so genannten sicheren Herkunftsländer ist ein Angriff auf das individuelle Grundrecht auf Asyl. Die Folge einer solchen Pauschalpolitik ist, dass nicht mehr wirklich hingeschaut wird, wenn Menschen aus diesen Ländern Asyl beantragen. Jeder Fall muss aber individuell bearbeitet werden.

Union und SPD wollen monatlich höchstens 1000 Familienangehörigen von Flüchtlingen den Nachzug erlauben. Wie bewerten Sie das?

Baerbock Als Politikerin und Mutter bricht es mir das Herz. Stellen Sie sich vor es wäre Ihr Kind, das getrennt von einem Elternteil in Kriegsgebieten ausharrt. Es sind ja vor allem Syrerinnen und Syrer, um die es hier geht und deren Familienangehörige teilweise noch in Städten leben, auf die nun wieder, wie akut in der Region Idlib, Fassbomben geworfen werden oder wo keine Wasserversorgung mehr existiert. Dass wir diese Menschen in Sorge und Furcht um ihre engsten Familienangehörigen nicht unterstützen und Kinder retten, finde ich inhuman und grausam.

Wie gerecht ist es gegenüber Jüngeren, dass Union und SPD die Mütterrenten weiter erhöhen wollen?

Baerbock Die bisherige Schlechterstellung mancher Mütter bei der Rente zu beheben ist richtig, sie ist aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und darf nicht zu Lasten jüngerer Generation gehen. Wir haben daher immer gefordert, die Erhöhung aus Steuer- und nicht aus Beitragsmitteln zu finanzieren. Will man das Geld nun aus der Rentenkasse nehmen, spielt man die Mütter gegen ihre eigenen Kinder aus. Das geht gar nicht.

Wie bewerten Sie, dass der Spitzensteuersatz nicht steigen soll?

Baerbock Das verhindert, dass wir die Schere zwischen Arm und Reich in diesem Land weiter schließen. Denn mit diesen Einnahmen wollten wir zum Beispiel gerade Geringverdiener bei den Sozialabgaben entlasten und insbesondere Alleinerziehende stärker unterstützen. Die SPD hat nun zumindest ein bisschen was beim Kindergeldzuschlag erreicht. Aber nicht das, was wir Grünen in dem Bereich auch finanziell eingestellt hatten. Es stimmt doch etwas nicht, wenn in unserem reichen Land jedes fünfte Kind oder bei mir in Frankfurt (Oder) sogar jedes dritte Kind in Armut lebt und die große Koalition hier weiter nur mit Trippelschritten vorangehen will.

Toni Hofreiter sieht die Grünen als Partei der linken Mitte. Wie würden Sie das beschreiben?

Baerbock Genau so. Steht auch so in unserem Programm. Und je stärker der Wind von rechts bläst, desto höher müssen wir die linksliberale emanzipatorische Fahne halten. Sich aber allein über andere zu definieren trägt in diesen Zeiten aus meiner Sicht nicht mehr. Nehmen wir mal die Äußerungen von Linksfraktionschefin Sahra Wagenknecht oder der CSU zu Europapolitik. Sind die links oder rechts? Für mich sind die anti-europäisch. Und proeuropäisch zu sein, heißt grün zu sein.

Das Interview führten Birgit Marschall und Holger Möhle.

(mar, hom)
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