Merkels Regierungserklärung zu Afghanistan „Wir scheuen nicht davor zurück, Gespräche mit den Taliban zu führen“

Berlin · In ihrer Regierungserklärung im Bundestag sprach Bundeskanzlerin Merkel über die Fehleinschätzungen beim Abzug der Streitkräfte aus Afghanistan. Die internationale Koalition habe die Lage unterschätzt.

 Angela Merkel während ihrer Regierungserklärung im Bundestag am Mittwoch.

Angela Merkel während ihrer Regierungserklärung im Bundestag am Mittwoch.

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat die Entscheidung über den Zeitpunkt der Ortskräfte-Evakuierung in Afghanistan als schwieriges Dilemma beschrieben. „Stellen wir uns für einen Moment vor, Deutschland hätte im Frühjahr nicht nur mit dem Abzug der Bundeswehr begonnen, sondern gleich auch mit dem Abzug von Mitarbeitern und Ortskräften deutscher Hilfsorganisationen“, sagte sie am Mittwoch in einer Regierungserklärung im Bundestag. „Manche hätten dies sicher als vorausschauende Vorsicht gewürdigt, andere dagegen als eine Haltung abgelehnt, mit der Menschen in Afghanistan im Stich gelassen und ihrem Schicksal überlassen werden.“ Beide Sichtweisen hätten ihre Berechtigung.

Die Bundesregierung habe damals sehr gute Gründe dafür gesehen, den Menschen in Afghanistan nach dem Abzug der Truppen wenigstens in der Entwicklungszusammenarbeit weiter zu helfen - „ganz konkrete Basishilfe von Geburtsstationen bis zur Wasser- und Stromversorgung“, sagte Merkel. Im Nachhinein sei es leicht, die Situation zu analysieren und zu bewerten. „Hinterher, im Nachhinein alles genau zu wissen und exakt vorherzusehen, das ist relativ mühelos“, sagte Merkel. Doch die Entscheidung habe in der damaligen Situation getroffen werden müssen. Jetzt konzentriere man sich „mit ganzer Kraft“ auf die Evakuierungsflüge.

Merkel räumte aber auch Fehleinschätzungen der internationalen Gemeinschaft nach dem Abzug der internationalen Streitkräfte ein. Es sei unterschätzt worden, "wie umfassend und atemberaubend" schnell der Widerstand gegen die radikalislamischen Taliban aufgegeben worden sei, sagte Merkel. Die gesamte internationale Koalition habe die Geschwindigkeit dieser Entwicklung "ganz offensichtlich unterschätzt".

Die Kanzlerin zeigte sich erschüttert über die Lage in Afghanistan. Die Entwicklung der vergangenen Tage sei "furchtbar" und "bitter". Für die Menschen in Afghanistan sei dies eine "einzige Tragödie", vor allem für diejenigen, die sich für eine freie Gesellschaft eingesetzt hätten.

Merkel versicherte, die Evakuierungsmission aus Afghanistan "solange wie möglich" fortzusetzen. Sie machte aber keine Angaben dazu, wie lange die Evakuierungsflüge der Bundeswehr noch andauern. Aus Sicherheitskreisen hatte es zuvor geheißen, dass die Bundeswehr-Luftbrücke voraussichtlich schon am Freitag enden werde. Merkel betonte, dass Ende der Luftbrücke dürfe nicht das Ende der Bemühungen sein, afghanischen Ortskräften zu helfen.

Auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hat sich erschüttert über die Geschehnisse in Afghanistan gezeigt. "Die Verzweiflung der Menschen am Flughafen in Kabul zerreißt einem das Herz", sagte Schäuble zu Beginn der Sondersitzung des Parlaments. "Ihr Schicksal erschüttert das Selbstverständnis des Westens", betonte Schäuble.

"In wenigen Tagen brach zusammen, was wir im Bündnis über zwei Jahrzehnte mit aufgebaut haben", fügte der Parlamentspräsident hinzu. "Es ist eine Tragödie für die Afghanen, die nun um ihr Leben fürchten - unter ihnen Frauen und Mädchen, die lernen durften, selbstbestimmt und selbstbewusst zu leben."

In den 20 Jahren des Afghanistan-Einsatzes sei "die Saat der Freiheit gesät" worden. "Daraus erwächst eine moralische Verpflichtung: Wir dürfen die Menschen nicht im Stich lassen", sagte Schäuble. Er fügte hinzu: "Mit dem Anspruch, Afghanistan nach unseren Vorstellungen und Werten umzugestalten, sind wir gescheitert."

"Die Ereignisse in Afghanistan werfen viele Fragen auf - die nach der Verantwortung ist eine, und sie wird auch parlamentarisch aufgearbeitet werden", sagte Schäuble weiter. "Die Welt steht aber nicht still, es braucht jetzt strategische Weitsicht." Im globalen Wettbewerb der Systeme werde der Autoritätsverlust des Westens längst ausgenutzt. "Deshalb müssen wir im Bündnis schnell überzeugende Antworten finden, wie wir künftig unseren universellen Werten Geltung in der Welt verschaffen wollen."

(lils/dpa/AFP)
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