Kanzlerin bei "Anne Will" Merkel — die Illusionskünstlerin

Berlin · Die einstige Meisterin der politischen Volte bleibt in der Flüchtlingskrise standhaft. Im TV-Talk bei Anne Will lässt sie sich nicht aus der Reserve locken.

Angela Merkel spricht mit Anne Will über die Flüchtlingspolitik
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Angela Merkel spricht mit Anne Will über Flüchtlingspolitik

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Foto: dpa, rje wst

Für einen Moment stellt sich ein Déja-vu ein — das habe ich doch schon einmal gesehen und gehört. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sitzt in einem überdimensionierten weißen Sessel der ARD-Moderatorin Anne Will gegenüber und verbreitet Zuversicht in der Flüchtlingskrise. Haben die etwa die alte Sendung von Oktober eingelegt?

Beim Jahreswechsel 1986 zu 1987 wünschte Helmut Kohl in seiner Neujahrsansprache ja auch alles Gute für 1986, weil schlicht die Ansprache vom Vorjahr ausgestrahlt wurde. Also schnell ein Blick im Internet auf die Fotos der Sendung von Oktober. Nein: Es ist eine neue Sendung. Im Oktober trug die Kanzlerin Blau, an diesem Sonntagabend Orange. Ansonsten hat sich aber eigentlich nichts verändert.

Die kleine Irritation beleuchtet die beiden zentralen Punkte, die über den Live-Auftritt der schwer unter Druck stehenden deutschen Kanzlerin zu sagen sind: Seit Oktober gibt es kaum Fortschritte in der Flüchtlingskrise, und die Sicht der Kanzlerin auf den Zustrom nach Deutschland ist die gleiche wie im Oktober.

Der Sendungstitel klingt allerdings alarmierender als noch vor fünf Monaten: "Deutschland gespalten, in Europa isoliert — Wann steuern Sie um, Frau Merkel?". Wills Talk-Konzept hapert daran, dass sie ihre Fragen genau nach Plan stellen möchte und die Kanzlerin irgendwann irritiert sagt, sie wisse nicht, ob sie jenen Punkt nun schon sagen dürfe, oder ob das für später in der Sendung geplant sei. Will lacht, versteht die Kritik und ihre Moderation wird fortan flexibler und damit auch besser.

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Der stärkste Teil der Sendung sind jene Minuten, in denen die Moderatorin sich bemüht, die Kanzlerin als Illusionskünstlerin zu enttarnen. "Ich stürze mich auf den Weg, den alle für richtig halten, an den aber nicht alle glauben", sagt Merkel und meint damit ihren Plan, die Flüchtlingskrise über ein europäisch-türkisches Abkommen zu lösen, wonach weniger Flüchtlinge von der Türkei nach Europa kommen werden.

Wie wenig Europa noch an diesen Plan glaubt, belegen die Grenzschließungen entlang der Balkanroute ebenso wie der Aufnahmestopp in Schweden und Dänemark. Wie wenig Merkels weiterer Plan funktionieren kann, der Türkei künftig über Kontingente geordnet Flüchtlinge abzunehmen, zeigt das bisherige Misslingen, nur 160.000 Menschen auf die 28-EU-Staaten zu verteilen.

Die kluge Kanzlerin sieht natürlich ihre missliche Lage. Sie redet sie aber schön und das schon seit Monaten. Sie sagt immer und überall das gleiche: Im Bundestag, in der Fraktion, bei Hintergrundgesprächen mit Journalisten, in Interviews, im Wahlkampf und eben auch beim Talk mit Anne Will. Wer Merkel oft zuhört, kann die Argumentationskette selbst aufsagen. Fast trotzig erklärt die Kanzlerin zum Ende der Sendung, dass das, was sie tue, logisch sei. Richtig.

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Doch wann ist Geschichte logisch verlaufen? Die übrigen Staaten in Europa handeln nicht rational, sie agieren national. Das ist angesichts des mühsamen europäischen Einigungsprozesses der vergangenen Jahrzehnte komplett unlogisch — aber die Realität.

Und obwohl die Sendung über weite Strecken wie eine Wiederholung klingt, gibt es doch Erkenntnisse. Wer es noch nicht geglaubt hat, weiß nun: Merkel wird keine Wende einleiten. Sie hat die Flüchtlingsfrage mit ihrem Amt verknüpft. Mit ihren Antworten bestätigt sie auch, was man nach den vielen bösen Worten zwischen Union und SPD längst vermutete, die Risse zwischen SPD und Union sind tief. Nur mühsam kann Merkel ihren Ärger darüber zurückhalten, dass Sigmar Gabriel (SPD) durchs Land läuft und sein Sozialpaket mit dem Argument verteidigt, die Geringverdiener und die Abgehängten sagten: "Für die habt Ihr alles, für uns nichts."

Dieses Argument ist gefährlich, weil es der AfD Wasser auf die Mühlen spült. Merkel belässt es dabei, dieser Parole nur entgegenzusetzen, Gabriel mache sich selbst klein. Dann listet sie die vielen sozialen Wohltaten auf, die die große Koalition beschlossen und umgesetzt auf, als machte sie für die SPD Wahlkampf.

(qua)
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