Recht als politisches Argument Der Kampf mit den Paragrafen

Düsseldorf · Populisten haben dem Recht zu einer verblüffenden Renaissance verholfen. Die Behauptung, der politische Gegner verstoße gegen Gesetze, ersetzt zunehmend das kluge Argument. Der Verfassungsgerichtspräsident mahnt Politiker wie Horst Seehofer daher zur Sachlichkeit. Ist das gut?

 Andreas Voßkuhle, Vorsitzender des Zweiten Senats und Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

Andreas Voßkuhle, Vorsitzender des Zweiten Senats und Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

Foto: dpa/dpa, ua fgj

Die deutsche Nationalhymne beginnt mit einem beliebten Kinderspiel: Welches Wort passt nicht in die Reihe? „Einigkeit und Recht und Freiheit“ – diese drei Begriffe führen die dritte Strophe des Lieds der Deutschen an, wie nicht nur die Fußballpatrioten wissen. Drei Begriffe als Säulen der Republik. Bloß das Recht will gar nicht so gut in diese Reihe passen. Denn, was ist der Sinn des Rechts? Das Schaffen einer Ordnung; Regeln, die das Zusammenleben in einer Gesellschaft möglich machen, die Interessen ausgleichen. Nach modernem Verständnis gehören die Garantien von Einigkeit und Freiheit zu solchen Regeln; Einigkeit und Freiheit sind Bestandteil und Voraussetzung der Rechtsordnung eines Rechtsstaates wie der Bundesrepublik.

Von der gesellschaftlichen Einigkeit hat sich das Deutschland des Jahres 2018 um einige Meilen entfernt. Einig ist sich jeder höchstens mit seinen Resonanzkörpern, den Stammtischen des Internets. Und ausgerechnet das Recht ist in diesem Sommer die Waffe der Wahl. Das Land spaltet sich in zwei Lager, die man mit rechts und links erfassen könnte, besser aber noch mit der Frage: Wie hältst du’s mit Merkel? Zwischen den Seiten – mittendrin liegt ein großer grüner Streifen Wiese, auf dem sich das erschöpfte Land mit zwei Kugeln Basilikumeis im biologisch abbaubaren Becher oder einer Flasche Bier ausruht – fliegen aus der Kanone die Paragrafen. Wir haben recht!, schreien die einen. Nee, wir!, die anderen.

Das ging 2015 los, mit der vermeintlichen Grenzöffnung der Bundeskanzlerin. Auch daran ließe sich übrigens ganz prima die Lagerbildung beschreiben: Wer von Grenzöffnung spricht, ist eher im Antimerkel-Lager, wer sagt, die Grenzen wurden lediglich nicht geschlossen, im anderen. 2016 jedenfalls bekam das Kind einen Namen, der damalige – wie lang ist das bitte her? – bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer taufte es auf „Herrschaft des Unrechts“. Aus der Paragrafenfletsche fliegen nun die Begriffe: „Rechtsbruch“ und „illegale Massenmigration“. Was immer auch geschehen ist, es soll mit dem Vorwurf der Rechtswidrigkeit delegitimiert werden.

Die andere Seite kann das aber auch sehr gut, ist ja klar. Als Seehofer, inzwischen Innenminister, in diesen überhitzten Zeiten ankündigte, er wolle Flüchtlinge direkt an der Grenze zurückweisen, wälzten seine Gegner sich durch die Untiefen des Asylrechts. Sie beschrieben, warum dies gegen europäisches Recht verstöße, argumentierten, dass die „Fiktion einer Nichteinreise“ – sprachlich der Tiefpunkt – nur an EU-Außengrenzen funktioniere, in Kiefersfelden aber definitiv nicht zulässig wäre. Paragraf um Paragraf flog zurück zu den Seehofers. Rechtswidrig! Rechtsbruch!

Was man bei all dem schmerzlich vermisst, sind die politisch klugen Antworten. Die Argumente, die ohne juristisches Gutachten auskommen, die auf die Kraft des eigenen Gedanken vertrauen, auf die Stärke der Idee. Der Diskurs hat sich verrechtlicht und damit auf eine seltsame Weise entpolitisiert.

Einer, der schon immer sehr politisch war, ist Andreas Voßkuhle. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hat sich nun, womöglich in einem Anflug väterlicher Schutzgefühle, in diesen Kampf der Paragrafen eingemischt. Er fordert die Politik in der „Süddeutschen Zeitung“ auf, die Waffe zu wechseln. Und anders als es die plakativen Überschriften suggerieren, meint Voßkuhle durchaus beide Seiten.

„Gerade wenn die Kenntnis der Fakten gering ist, werden die Akteure des Rechtsstaats mitunter vorschnell desavouiert, oder es wird ein angebliches Versagen des Rechtsstaats behauptet“, sagt Voßkuhle. Was er meint: Wer keine Ahnung hat, sollte besser mal den Mund halten – oder eben anders argumentieren. „Unreflektierte Schnellschüsse“, nennt er das. Ohne den meisten Akteuren dieses Streits zu nahe treten zu wollen, aber ein fundiertes Verständnis des Zusammenspiels zwischen nationalem und supranationalem Recht sowie Völkerrecht, speziell im Bereich des Asylrechts, dürfte eher selten vorzufinden sein.

Es ist eben nur etwas komplizierter, als es Voßkuhle darstellt. Immerhin kämpfen auch die Ex-Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier oder Udo Di Fabio mit Paragrafen, denen man Kenntnis der Fakten unterstellen darf. Sie versuchen trotzdem die Wirklichkeit normativ zu schaffen. Sie behaupten, wie viele andere, eine Rechtslage, die es möglicherweise gar nicht gibt, um damit Politik zu machen.

Auf Voßkuhle wirkt der Diskurs „ziemlich schrill“, was man ihm nicht verübeln möchte. Er empfiehlt daher, ganz passend zu den nun in ganz Deutschland herrschenden Sommerferien, mal ein paar Gänge herunterzuschalten. Seehofers „Herrschaft des Unrechts“, sagt Voßkuhle durchaus nachvollziehbar, wecke „Assoziationen zum NS-Unrechtsstaat, die völlig abwegig sind“. Seehofer wiederum hält es nicht für angebracht, dass der Präsident des Verfassungsgerichts als Sprachpolizist durchs Land reist. Was nahelegt, dass er Voßkuhles Interview weder gelesen noch verstanden haben kann.

Andreas Voßkuhle mahnt zur Sachlichkeit
Foto: grafik

In diesem erhitzten Sommer von Bier und Basilikumeis bietet Andreas Voßkuhle dem Recht ein bisschen Schatten. „Das ist eine Frage der Politik!“, ruft er den Reisenden hinterher – und nicht des Rechts. Die Republik sehnt sich nach Einigkeit, und das Recht nach einem Waffenstillstand.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort