Groß angelegte Studie Anders als vermutet: Wie Muslime in Deutschland leben
Berlin · Im letzten halben Jahrzehnt hat sich die Zahl der Muslime in Deutschland um rund 900.000 erhöht. Um die nun rund 5,5 Millionen Islam-Gläubigen und ihren Alltag ranken sich viele Annahmen und Vermutungen. Nach einer neuen Studie sind manche schlicht falsch.
Es muss ein heißes Eisen für das Innenministerium sein, was da an diesem Mittwochmittag in einer Gemeinschaftsschalte des eigenen Hauses und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg vorgestellt wird. Jedenfalls muss Staatssekretär Markus Kerber gleich nach seinen Eingangsworten seine Sachen packen und das Haus verlassen: Feueralarm! Innenminister Horst Seehofer (CSU) hat den Vorstellungstermin an ihn delegiert. Schließlich war der Bayer mit der Botschaft ins Amt gekommen, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre. Und nun zeigt eine Studie seiner Behörde, wie sehr die Muslime sich Deutschland verbunden fühlen und wie anders sie im Alltag sind, als es oft vermutet wird.
Es ist nicht nur die erste umfassende Untersuchung seit 2008, sie ist auch so repräsentativ wie keine vor ihr: 4.538 Interviews ließ Studienleiterin Anja Stichs im Auftrag der Deutschen Islamkonferenz unter den Menschen mit Migrationshintergrund aus 23 muslimisch geprägten Herkunftsländern führen, erfasste so das Leben von über 14.000 Menschen in ihren Haushalten. Sie rechnete hoch, dass sich die Zahl der Muslime in Deutschland seit 2015 um rund 900.000 erhöht hat und sie nun zwischen 6,4 und 6,7 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Diese 5,3 bis 5,6 Millionen Muslime in Deutschland sind also anders gerechnet doppelt so viele Menschen, wie die CSU bei der letzten Bundestagswahl an Wählern hatte. Und die Christsozialen sind sicherlich davon überzeugt, dass sie zu Deutschland gehören. Allerdings hatte Seehofer bei seiner den Islam ausschließenden Festlegung zugleich zugestanden, dass die hier lebenden Muslime „selbstverständlich“ zu Deutschland gehörten. Möglicherweise aus gutem Grund: Fast die Hälfte von ihnen sind Deutsche, könnten daher in Bayern auch Wähler der CSU sein oder werden.
Denn das ist einer der unerwarteten Befunde der Studie: „Man kann die Überzeugung über Bord werfen, dass die Religionszugehörigkeit ein Hindernis bei der Integration ist“, fasst Studienleiterin Stichs zusammen. „Aspekte wie die Aufenthaltsdauer, Migrationsgründe oder die soziale Lage prägen den Integrationsprozess in einem weitaus größeren Ausmaß als die Religionszugehörigkeit“, erläutert Hans-Eckhard Sommer, Präsident des Migrations-Bundesamtes.
Verändert hat sich der frühere Befund, wonach das islamische Leben in Deutschland vor allem türkisch geprägt sei: Der Anteil der Türkeistämmigen unter den Muslimen ist zwischen 2008 und heute von 65 auf 45 Prozent gesunken; die meisten haben jetzt einen anderen Hintergrund. Aber nicht nur bei der Herkunft von Muslimen ist mehr Vielfalt eingetreten, auch die Ausübung ihres Glaubens handhaben sie sehr unterschiedlich: Zwar beten 39 Prozent täglich, aber 25 Prozent sagen, dass sie das „nie“ täten. Ein ähnliches Bild bei der Frage, wie viele den Fastenvorschriften folgen: 56 Prozent halten sich an die Regeln im Ramadan, 24 Prozent tun dies nie. „Den“ Muslim gebe es in Deutschland nicht, hält Sommer fest.
Die Herkunft scheint zudem stärker die Religionsausübung zu bestimmen als die Frage, ob man Muslim oder Christ ist. Denn erfasst wurden auch Migranten, die in ihren Herkunftsregionen zur Minderheit gehören. So halten sich 82 Prozent der aus muslimischen Ländern zugewanderten Christen für „stark oder eher gläubig“, während es bei der Vergleichsgruppe von Christen ohne Migrationshintergrund lediglich 55 Prozent so sehen. Schwer taten sich die Forscher mit den Muslimen ohne jeden Migrationshintergrund, also vor allem den in Deutschland lebenden Konvertiten. In der rund 600 Deutsche umfassenden repräsentativen Vergleichsgruppe fand sich kein einziger. Stichs erklärt sich das damit, dass die auf 100.000 geschätzten Muslime ohne Migrationshintergrund unter 83 Millionen Menschen eben schwer zu erfassen seien.
Wenn es um die Zahl der in einer typischen Familie lebenden Kinder geht, hat muslimisches Leben im Schnitt mehr mit Zukunft zu tun als nichtmuslimisches. 46 Prozent der einen leben in einem Haushalt mit Kindern, 24 Prozent sind es bei den anderen.
Aufschlussreich erscheint angesichts der weit verbreiteten Stereotypen auch die Quote der Mädchen und Frauen, die in der Öffentlichkeit ein Kopftuch tragen: Zwei von dreien tun es nicht. Es ist vor allem eine Frage des Alters. Bei den Frauen ab 66 Jahren ziehen 62 Prozent ein Kopftuch an, aber schon bei den 46- bis 65-Jährigen sind es weniger als die Hälfte, nämlich 42 Prozent. Je jünger, desto geringer ist die Praxis der Kopfbedeckung: 26 Prozent sind es bei den 16- bis 25-jährigen jungen Frauen, elf Prozent bei den jüngeren Teenagern, und bei Mädchen unter zehn sind es unter ein Prozent.
Bleibt die Frage, wie weit die Islam-Verbände die Muslime in Deutschland repräsentieren. Von ihnen fühlen sich 40 Prozent der Muslime vertreten. Gemessen an denen, die am Freitagsgebet teilnehmen, sind die großen Verbände nur bei jedem vierten praktizierenden Gläubigen präsent.