Analyse zum deutschen Sozialsystem Staat muss sich gegen Betrug wehren

Berlin/Duisburg · Das Kindergeld soll Eltern bei der Steuer entlasten, um ihnen die Fürsorge für das Kind zu erleichtern. Seit Jahren wird über Missbrauch durch hier lebende EU-Ausländer debattiert. Doch Rechtsänderungen wären komplex.

 Mittlerweile gibt es fast 270.000 ausländische Kindergeld-Empfänger. Der weit überwiegende Teil bezieht die Leistung rechtmäßig. (Symbolbild)

Mittlerweile gibt es fast 270.000 ausländische Kindergeld-Empfänger. Der weit überwiegende Teil bezieht die Leistung rechtmäßig. (Symbolbild)

Foto: dpa/Julian Stratenschulte

Als der damalige SPD-Chef und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel Ende 2016 mit der Forderung an die Öffentlichkeit ging, die Kindergeldzahlungen in andere EU-Staaten kürzen zu wollen, löste er damit eine heftige Debatte über Sozialmissbrauch durch Ausländer aus. Bilder verwahrloster Straßenzüge in Duisburg-Marxloh waren im Fernsehen zu sehen, wo es den Angaben zufolge besonders oft zu Betrug bei Sozialleistungen kommen soll.

Konservative wie der damals amtierende Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) stellten Initiativen auf europäischer Ebene in Aussicht, um die Gesetze entsprechend zu ändern, Politiker der Linken warfen Gabriel hingegen vor, sich an den Schwächsten in Europa abzuarbeiten.

Seitdem ist die Zahl der Empfänger noch einmal deutlich gestiegen. Als Gabriel seinen Aufschlag wagte, überwies Deutschland an 185.000 im Ausland lebende Kinder das entsprechende Kindergeld. Mittlerweile sind 268.336 Kinder anspruchsberechtigt, die Summe beläuft sich auf rund 340 Millionen Euro pro Jahr. Der weit überwiegende Teil davon ist jedoch rechtlich einwandfrei (einen Kommentar zu dem Thema lesen Sie hier).

Denn Personen, die aus dem Ausland nach Deutschland kommen, um hier zu arbeiten, deren Kinder aber in der Heimat geblieben sind, haben einen Anspruch auf Kindergeld erworben. Sie sind Teil des deutschen Wertschöpfungssystems und wegen des Gleichbehandlungsgrundsatzes der Europäischen Union wie deutsche Arbeitnehmer zu behandeln, wenn es um staatliche Leistungen geht. Die Bundesagentur für Arbeit, der die deutschen Familienkassen unterstehen, betonte am Donnerstag, dass in diesem Bereich so gut wie kein Missbrauch stattfinde.

Das ist auch der Grund dafür, weswegen es Deutschland auf europäischer Ebene bisher nicht gelungen ist, etwas an den Regelungen zur Überweisung von Kindergeld ins Ausland zu ändern. Maßgeblich dafür ist eine unmittelbar wirkende EU-Verordnung – und die steht über nationalem Recht. Um also eine damals wie heute geforderte Reform der Kindergeldzahlungen umsetzen zu können, bedarf es eines europäischen Gesetzes zur Änderung dieser Verordnung. Das Ziel wird „Indexierung“ genannt: Die deutschen Kindergeldzahlungen sollen entsprechend der in dem jeweiligen EU-Land herrschenden Lebenshaltungskosten angepasst, also zumeist abgesenkt werden.

Dafür müsste die Bundesregierung, gemeinsam mit anderen EU-Staaten, eine Mehrheit im Ministerrat erreichen. 55 Prozent der Länder, die zusammen 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren, müssten zustimmen. Dann käme die EU-Kommission mit einem Gesetzesvorschlag ins Spiel, der zudem vom Parlament gebilligt werden müsste. Doch die Kommission machte am Donnerstag deutlich, dass eine Indexierung in keinem EU-Gesetz vorgesehen sei. Am Freitag bekräftigte eine Sprecherin der EU-Kommission, dass eine Änderung abgelehnt werde.

Der Europaabgeordnete Elmar Brok (CDU) würde eine Indexierung dagegen begrüßen, verweist aber auch auf Schwierigkeiten. „Das könnte auch dazu führen, dass die im Ausland lebenden Kinder dann nach Deutschland geholt werden und voll zulasten des deutschen Bildungs- und Sozialsystems gehen“, sagte er. Das würde insgesamt deutlich höhere Ausgaben für den deutschen Staat bedeuten als die Kosten für den vollen Satz des Kindergeldes, so Brok.

FDP-Vizechefin Katja Suding mahnte, dass die Akzeptanz unseres Sozialstaats wesentlich davon abhänge, dass die Leistungen diejenigen erreichten, für die sie gedacht seien. „Der Dschungel familienpolitischer Leistungen in Deutschland erleichtert ihren Missbrauch“, sagte Suding. Dieser Eindruck herrscht auch in vielen betroffenen Kommunen vor, die meisten davon gibt es in Nordrhein-Westfalen. Dort ist vom Phänomen gezielter Zuwanderung in Sozialsysteme die Rede.

Beispiel Duisburg. Keine andere deutsche Stadt nimmt gemessen an der Bevölkerungsanzahl mehr Menschen aus Rumänien und Bulgarien auf. Es sind vor allem Sinti und Roma, aktuell rund 19.000. Und es werden mehr. Seit zehn Jahren reißt der Zustrom in die finanziell gebeutelte Ruhrgebietsstadt nicht ab. Ein Grund: Die Mieten in Duisburg sind in bestimmten Gegenden extrem niedrig. Und das zieht die Armutsflüchtlinge an – so auch in Dortmund und Gelsenkirchen. Denn einen festen Wohnsitz benötigen sie, um Sozialleistungen beziehen zu können.

Für die Justiz in den betroffenen Regionen stellt die Lage eine Herausforderung dar. Denn die Menschen, die in den Städten oft zu Dutzenden zusammengepfercht in kleinen Wohnungen leben, sind oft die Opfer. Von Schlepperbanden werden sie gezwungen, nach Deutschland zu reisen, sich dort anzumelden und Sozialleistungen zu beantragen. Das Geld fließt dann auf Konten der Schlepper. Sobald die Sozialleistungen fließen, werden die Menschen zu Arbeit für einen Hungerlohn gezwungen, angestellt bei den Schleppern. Oder wieder in ihre Heimat gebracht – und neue werden geholt. Die Behörden, so ein Insider, schafften es bisher kaum, die Schlepper festzusetzen.

In Duisburg hat Oberbürgermeister Sören Link (SPD) das Thema längst zur Chefsache erklärt. Seit Jahren weist er auf die Thematik hin. Der Betrug mit Kindergeld soll nun stärker verfolgt werden. Hunderte Fälle des Steuerbetrugs sollen laut Justizkreisen inzwischen bei den Staatsanwaltschaften in NRW liegen.

Brok macht aber auch den Kommunen Vorwürfe. Wichtig sei, dass die Gewerbeämter nicht einfach Gewerbescheine an ausländische Selbstständige ohne genaue Prüfung ausstellten. „Denn gerade EU-Bürger aus Rumänien nutzen deutsche Gewerbescheine gerne als Hintertür, um an deutsche Sozialleistungen zu kommen, ohne hier tatsächlich in dem Bereich zu arbeiten“, sagte er.

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