Debatte über niedrige Impfquote Was das Grundgesetz zur Impfpflicht sagt

Analyse · Gegner einer allgemeinen Impfpflicht argumentieren gerne mit dem Grundgesetz, doch verfassungsrechtlich könnte diese sogar geboten sein. Sie wäre nach Ansicht von Juristen mitunter einfacher zu rechtfertigen als ein Lockdown für Ungeimpfte und Geimpfte zugleich.

 Sollte es eine allgemeine Impfpflicht geben? Rund 70 Prozent der Bürger sind dafür.

Sollte es eine allgemeine Impfpflicht geben? Rund 70 Prozent der Bürger sind dafür.

Foto: dpa/Robert Michael

Die Freiheit in der Bundesrepublik ist so groß, dass man auf dem Sterbebett noch irren darf. Aus einer Klinik ist diese Geschichte überliefert, die mehr und mehr Ärzte und Pfleger im Land erzählen können: Patienten liegen mit Covid-19 auf der Intensivstation, das Weihnachtsfest werden sie wohl nicht mehr erleben. Aber sie glauben weiterhin, dass dieses Virus, das sie dahinraffen wird, ein Hirngespinst ist.

Muss dieser Staat diesen tödlichen Irrtum aushalten? Ja, das muss er. Muss er im Angesicht überlasteter Kliniken auch aushalten, dass sich Menschen freiwillig nicht impfen lassen? Nein, das muss er nicht. Jedenfalls nicht, wenn er es nicht will.

Keine 70 Prozent der Deutschen sind vollständig (zurzeit also noch zweimal) gegen Covid-19 geimpft. Immer häufiger ist deswegen die Rede von einer allgemeinen Impfpflicht, die die Impflücke schließen soll. Politiker fordern sie mittlerweile, obwohl sie sie anfänglich noch vehement ausgeschlossen haben. In Umfragen sprechen sich rund 70 Prozent der Bürger für eine Impfpflicht aus. Doch insbesondere die FDP ist dagegen. Nicht nur praktische oder gesellschaftspolitische Einwände werden gegen die Impfpflicht erhoben, sondern insbesondere verfassungsrechtliche.

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Was also sagt das Grundgesetz zur Impfpflicht? Direkt erst einmal nichts. In Deutschland gilt seit März 2020 einzig eine Pflicht für bestimmte Gruppen, sich gegen Masern impfen zu lassen. Das betrifft etwa Kinder, Erzieher und medizinisches Personal. Wie das Bundesverfassungsgericht diese Impfpflicht beurteilt, ist nicht überliefert. Zwar liegen in Karlsruhe Beschwerden, aber eine Entscheidung hat das Gericht noch nicht verkündet. Leider.

Ob eine Impfpflicht also mit dem Grundgesetz vereinbar wäre, ist nicht garantiert zu beantworten. Es lassen sich aber Prognosen anstellen. Und die gehen in eine eindeutige Richtung. Der Jurist Christoph Degenhart sagt: „Eine Impfpflicht im Falle der Corona-Pandemie ist verfassungsrechtlich möglich und zulässig.“ Der Staat sollte darauf verzichten, „Zwangsmaßnahmen zu ihrer Durchsetzung wie etwa die polizeiliche Vorführung einzusetzen“, sagt er. Die Impfpflicht wäre demnach eine Rechtspflicht, die bei Verstoß Bußgelder androht. Eine Mehrheit der Verfassungsrechtler sieht es wie Degenhart.

Klar ist, dass eine Impfpflicht das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit einschränken würde. Diese Einschränkung ist aber nicht so groß, dass sie nicht zu rechtfertigen wäre. Der Berliner Staatsrechtler Christoph Möllers sagt: „Die Selbstverständlichkeit, mit der die Impfpflicht als besonders tiefer Eingriff verstanden wird, leuchtet nicht richtig ein.“ Das gilt auch deswegen, weil Experten die Corona-Impfstoffe als extrem sicher bewerten.

Welchem Zweck eine Impfpflicht dienen soll, liegt auf der Hand: die Überlastung des Gesundheitssystems verhindern. Das Argument, wonach das für die sogenannte vierte Welle zu spät käme, ist verfassungsrechtlich irrelevant. Epidemiologen verweisen einhellig darauf, dass sich die Pandemie dauerhaft nur durch eine hohe Zahl an vollständig geimpften Bürgern beenden ließe. Würde die Impfquote in Folge einer Pflicht etwa auf 95 Prozent steigen, könnten Kontaktbeschränkungen oder sogar ein Lockdown sehr wahrscheinlich überflüssig werden. Eine Impfpflicht wäre also juristisch geeignet und erforderlich, die Pandemie zu beenden. Man könnte allerdings auch an eine bedingte Impfpflicht denken, also etwa nach dem Muster: Wenn die Impfquote bis zum 31. Januar nicht bei mindestens 90 Prozent liegt, dann gilt eine Pflicht. Das ist eine politische Entscheidung.

Jurist Degenhart sieht es so: „Bei einer Abwägung wäre die Beeinträchtigung durch eine Impfung nicht so hoch zu werten wie die Folgen der Corona-Pandemie.“ Er denkt da an die hohen Todeszahlen und mehrmalige Lockdowns. Die pauschale Schließung von Gastronomie, Einzelhandel, Schulen, Universitäten hat ja nicht nur hohe wirtschaftliche und soziale Kosten, sondern bedeutet schwere Eingriffe in eine Vielzahl von Grundrechten.

So kommt es auch, dass manche Verfassungsrechtler eine Impfpflicht nicht nur für zulässig, sondern für geradezu geboten halten. Die neue Ampel-Koalition will Entscheidungen zur Bundesnotbremse aus dem Frühjahr abwarten, die das Bundesverfassungsgericht am Dienstag verkünden will. Daraus will sie ableiten, welche weiteren Maßnahmen nun möglich wären. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen der Notbremse des Frühjahrs und der jetzigen Lage: knapp 70 Prozent vollständig geimpfte Bundesbürger. Weil sie weit weniger für die Überlastung des Gesundheitssystems verantwortlich sind, sind Lockdown-Maßnahmen gegen sie juristisch nur schwer zu rechtfertigen.

In einer Stellungnahme für den Bundestag formuliert der Münsteraner Verfassungsrechtler Hinnerk Wißmann das so: „Eventuell notwendige Lockdown-Maßnahmen lassen sich jedenfalls kaum noch als Alternative zu einer Impfpflicht denken, sondern setzen diese als milderes Mittel mindestens parallel voraus.“ Das heißt: Ein Lockdown für Ungeimpfte und Geimpfte gleichermaßen wäre nur zulässig, wenn zugleich eine allgemeine Impfpflicht beschlossen würde. Weil es eine risikolose Möglichkeit gebe, sich und andere zu schützen, sagt Christoph Möllers dies: „Kontaktbeschränkungen sind gegenüber Geimpften nicht einfacher zu rechtfertigen als eine Impfpflicht.“

(her)
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