Migrationsexperte Gerald Knaus zu Afghanistan „2015 war die Situation radikal anders als heute“

Interview | Berlin · Der Migrationsexperte Gerald Knaus geht fest davon aus, dass viele Menschen die Flucht aus Afghanistan versuchen werden. Dass sie den Weg bis nach Europa finden, hält er dagegen für ausgeschlossen. Dennoch sieht er die Europäische Union in der Pflicht - und hat konkrete Forderungen.

 Der Migrationsexperte Gerald Knaus rechnet damit, dass in naher Zukunft sehr viele Menschen aus Afghanistan flüchten werden - dass diese aber nicht bis Europa kommen werden.

Der Migrationsexperte Gerald Knaus rechnet damit, dass in naher Zukunft sehr viele Menschen aus Afghanistan flüchten werden - dass diese aber nicht bis Europa kommen werden.

Foto: picture alliance/dpa/Francesco Scarpa

Der Migrationsforscher Gerald Knaus hat 2016 das viel diskutierte EU-Türkei-Abkommen initiiert. Angesichts der aktuellen Lage in Afghanistan hält er Vergleiche mit 2015 allerdings für fehl am Platz. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) wirft Knaus Symbolpolitik vor. Und an die EU-Innenminister, die am Dienstag in Brüssel über die Afghanistan-Krise beraten haben, hat er klare Erwartungen. Knaus ist Vorsitzender der Denkfabrik European Stability Initiative (ESI), die für Migrationskonzepte bekannt ist.

Herr Knaus, rechnen Sie mit größeren Fluchtbewegungen aus Afghanistan? 

Knaus Man muss sicher damit rechnen, dass es in naher Zukunft sehr viele Menschen in Afghanistan geben wird, die fliehen müssen. Zum einen, weil sie berechtigte Angst vor den Taliban und anderen gegnerischen Kräften haben. Zum anderen wird es eine katastrophale humanitäre Situation im Land geben. Und zum dritten herrscht die Unsicherheit, dass der Konflikt längst noch nicht zu Ende ist. Es wird viele Gründe geben, warum Menschen Afghanistan verlassen wollen. Die entscheidende Frage ist, ob sie es schaffen. 

Und was ist Ihre Prognose? 

Knaus Dafür lohnt sich ein Blick nach Syrien, wo heute Millionen Binnenvertriebene nicht mehr über die Grenzen aus dem Land kommen. Ob das Gleiche nun auch in Afghanistan passiert, entscheidet sich durch die Politik der Nachbarstaaten. Wenn Pakistan und der Iran ihre Grenzen mit Gewalt schließen, so wie das heute alle Nachbarländer Syriens tun, dann wird es nicht vielen Menschen gelingen, herauszukommen. Was es ganz sicher nicht geben wird, ist eine größere irreguläre Migration wie 2015 bis in die Europäische Union. 

Was macht Sie so sicher? 

Knaus Die wichtigste Grenze dafür, nämlich die zwischen der Türkei und dem Iran, ist heute mit Mauern, Drohnen und Zehntausenden Soldaten hart abgeriegelt. 

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn deutsche Unionspolitiker als erste Reaktion sagen: „2015 darf sich nicht wiederholen“?

Knaus Das basiert auf einem großen Missverständnis: Man sieht in der Welt eine Katastrophe und schließt daraus, dass die betroffenen Menschen es bis Europa schaffen. Das ist aber wegen des aktuellen Zustands der Grenzen heute vollkommen unrealistisch. Die Gefahr ist nicht, dass zu viele Menschen irregulär nach Europa kommen. Die Gefahr ist nach wie vor, dass auch viele Menschen, denen wir Schutz bieten wollen, denen wir die Einreise nach Deutschland versprochen haben, nicht herauskommen. 2015 war die Situation radikal anders als heute. 

Innenminister Horst Seehofer hat eine harte Linie gegen unkontrollierte Migration aus Afghanistan angekündigt. Was sagen Sie dazu? 

Knaus Dieser Vorstoß wird kaum konkrete Konsequenzen haben. Denn an der europäischen Außengrenze zwischen Griechenland und der Türkei, sowohl auf dem Meer als auch auf dem Land, wird heute irreguläre Migration mit Gewalt zurückgestoßen. Damit wird diese irreguläre Migration reduziert, auch wenn diese Praxis im Widerspruch zum EU-Recht und zur UN-Flüchtlingskonvention steht. Wenn der Innenminister meint, dass diese Politik des Zurückstoßens fortgesetzt werden soll, dann ist das keine Veränderung zur jetzigen Situation. Wenn seine Aussage bedeutet, dass man Nachbarländer Afghanistans unterstützen will, kann das legale Wege der Aufnahme Schutzsuchender eröffnen. Dafür bräuchte es eine internationale Koalition, angeführt von den USA. Legale Wege würden für viele den Weg in die illegale Migration unnötig machen. Das wäre kluge Politik.

Horst Seehofer sprach von einer möglichen Verschärfung der Kontrollen an den deutschen Grenzen.

Knaus Da stellt sich die gleiche Frage wie schon bei dem Vorstoß von 2018, als der Innenminister an der Grenze zu Österreich Menschen aufgreifen und zurückschicken wollte. Das ist damals gescheitert. Ein Vorgehen wie an türkisch-iranischen Grenze, wo mit Zehntausenden Soldaten, Drohnen und Mauern Menschen zurückgestoßen werden, ist in Deutschland nicht vorstellbar. Die deutsche Grenze lässt sich daher nicht schließen. Und dass Deutschland plötzlich einen Zaun zu Österreich baut, schlägt auch niemand vor. So gesehen sind solche Vorschläge reine Symbolpolitik. 

Am Dienstag kamen die EU-Innenminister in Brüssel zusammen. Was erwarten Sie von den Beratungen? 

Knaus Die EU hat sich in den vergangenen zwei Jahren implizit darauf geeinigt, dass gültiges EU-Recht an der Außengrenze sehr oft nicht mehr angewandt wird. Das ist für eine Gemeinschaft, die auf der Basis von Rechtsstaatlichkeit operiert, ein ernstes Problem, ja dramatisch. Menschen werden an den Außengrenzen zurückgestoßen. Man kann sich implizit darauf verständigen, diese Politik fortzuführen. Und vielleicht darauf - was gut wäre - dass die EU mehr Mittel mobilisiert, um die Nachbarstaaten Afghanistans zu unterstützen, falls es zu größeren Fluchtbewegungen kommt. 

Geht es also nicht um eine gemeinsame Aufnahme und Verteilung? 

Knaus Die politischen Unterschiede zwischen den EU-Ländern sind viel zu groß, als dass es hier zu einer Einigung kommen könnte. Die heute dringende Frage, ob man bereit ist, Menschen aus Afghanistan durch Resettlement aufzunehmen, wird von jedem EU-Land eigenständig entschieden werden. Deutschland hat seinerseits bereits zugesagt, welche Gruppen von Menschen man bereit ist aufzunehmen.

Das Beste, was bei den EU-Ministerberatungen herauskommen kann, wäre also mehr Geld? 

Knaus Das Konstruktivste wäre mehr Geld und Unterstützung für humanitäre Organisationen. Und das nicht nur für diejenigen, die nun Afghanistan verlassen, sondern auch für die Menschen, die noch in Afghanistan sind. Sehr viele Menschen dort sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. In Afghanistan und in Nachbarstaaten so zu helfen, ist auch im Interesse der EU.

Unter den bisher Evakuierten sind nur sehr wenige Ortskräfte. Wie erklären Sie sich das? 

Knaus Dazu braucht es noch eine genauere Analyse, darüber könnte ich heute nur spekulieren. Aber Deutschland hat nicht nur den Ortskräften eine Aufnahme zugesagt, sondern auch anderen Menschen, die aufgrund ihrer Tätigkeit und ihres Engagements gefährdet sind. Man hätte früher evakuieren können, noch bevor die Lage eskaliert ist, und Menschen auf geordnetem Weg herausholen können. Das ist nicht passiert. Dass man in dem Chaos der Evakuierungsphase nicht mehr in der Lage war, jeden Einzelnen zu überprüfen, liegt auf der Hand. Trotzdem ist klar: Diese Evakuierung war notwendig und im Rahmen des Möglichen ein Erfolg, auch für die Bundeswehr. Jetzt muss man prüfen. Und es muss darum gehen, für Ortshelfer und Schutzberechtigte noch einen Weg aus Afghanistan heraus zu finden.

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