Analyse Afghanistan - Ende einer Strategie

Mit der Übergabe des Feldlagers in Kundus endet de facto der deutsche Kampfeinsatz in Afghanistan. Es könnte der letzte Großeinsatz von Landstreitkräften gewesen sein.

Analyse: Afghanistan - Ende einer Strategie
Foto: dpa, Michael Kappeler

Die deutschen Panzergrenadiere, die in der Lüneburger Heide einen Angriff vorführen, werden von einem Kameratrupp begleitet, der das Gefecht für einen eventuellen Rechtsstreit dokumentiert. Zuvor haben kleine Video-Drohnen die Häusergruppe überflogen, um feindliche Stellungen auszuspähen. Experten mit Dolmetschern warten im Hintergrund, um die zurückkehrende Zivilbevölkerung vor Blindgängern zu warnen.

So stellen sich das deutsche Heer und die Streitkräftebasis künftige Bundeswehr-Einsätze vor, eindrucksvoll präsentiert auf der ILÜ, der "Informations- und Lehrübung" für Fachpublikum vom Offizieranwärter bis zum General, die am Donnerstag endet. Auch Kampfpanzer und Fallschirmjäger werden vorgestellt.

Eine tiefe Zäsur

"Wir brauchen dieses Spektrum, um auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet zu sein", betont der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Bruno Kasdorf. Denn es könnte sich eines Tages rächen, Fähigkeiten in der Flugabwehr oder bei der Artillerie verloren zu haben, nur weil sie zurzeit unwichtig erscheinen.

Der Abschied von Kundus ist eine Zäsur für die Bundeswehr: Der Afghanistan-Einsatz prägte über mehr als ein Jahrzehnt die Ausbildung und die Ausrüstung der Truppe. Erstmals wurden besonders minengeschützte Fahrzeuge beschafft.

Bittere Lehren im wehrlosen Minenfahrzeug

Dann stellte man fest, dass man sie zum Schutz auch mit von innen bedienbaren Waffen bestücken musste, weil zum Beispiel Selbstmordattentäter nach der Zündung einer Sprengfalle auf den gestoppten Konvoi zuliefen, während im Hintergrund Heckenschützen lauerten. So veränderte sich die Ausrüstung stetig. Der Name Kundus stand symbolisch für den gesamten Einsatz, für unsichtbare tödliche Bedrohungen und das Aufeinanderprallen von Kulturen, die einander bis zuletzt fremd blieben.

In Erinnerung bleibt das Attentat auf dem Marktplatz von Kundus im März 2007, als drei Reservisten der Düsseldorfer Wehrverwaltung beim Einkaufen getötet wurden. In Erinnerung bleibt aber auch der von einem deutschen Oberst befohlene Luftangriff auf zwei von den Taliban entführte Tanklaster, bei dem viele Zivilisten starben. Die afghanische Seite beurteilte dieses Bombardements, das in Deutschland großen politischen Wirbel bis zum Ministersturz verursachte, teilweise gänzlich anders: die Bevölkerung bejubelte die Deutschen — endlich hatte die Bundeswehr einmal Zähne gezeigt und die verhassten Taliban angegriffen.

Viele nehmen ein Trauma mit

Doch die Truppe agierte nachvollziehbar zurückhaltend: Ein Oberfeldwebel, der an einem Kontrollpunkt auf ein heranrasendes Auto schoss und dessen Insassen tötete, musste sich zum Beispiel monatelang vor der deutschen Justiz verantworten. "Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen" war ein Motto der Bundeswehr im Kalten Krieg zwischen Ost und West — es ging um Abschreckung. In Afghanistan mussten die Soldaten plötzlich schießen — unverstanden von einer pazifistisch geprägten Gesellschaft in der Heimat, die auch die 54 Gefallenen mit einer Mischung aus Unverständnis und Entsetzen zur Kenntnis nahm.

Dazu kommen Hunderte Verletzte, darunter Erblindete und Verstümmelte. Zurück blieben trauernde Witwen und verstörte Familien. Mit furchtbaren Bildern wurden die Soldaten in Afghanistan konfrontiert: lächelnde Männer, die hinterrücks zur Waffe greifen, sterbende Kameraden, von Sprengfallen zerfetzte Kinder oder kleine Jungen als Selbstmordattentäter. Erstmals wurde der Begriff "posttraumatische Belastungsstörung" als Folge dieser Erlebnisse breiter bekannt.

Die Bundeswehr hielt sich bewusst zurück

Bereits beim Kosovo-Einsatz 2004 hatte sich die Hilflosigkeit von Streitkräften in einer bürgerkriegsähnlichen Lage gezeigt: Kosovo-Albaner blockierten das Bundeswehr Feldlager in Prizren mit Frauen und Kindern, damit unterdessen ein Mob serbische Dorfbewohner massakrieren konnte. "Wir konnten nicht durchbrechen. Wenn nur ein Kind unter den Rädern eines deutschen Panzers zerquetscht worden wäre, wäre die Empörung in Deutschland grenzenlos gewesen", verteidigte ein Offizier die Untätigkeit.

Die Bundeswehr hielt sich deshalb auch in Afghanistan zurück, erst recht nach der Kritik wegen des Angriffs auf die Tankwagen. So haben die Taliban im Großraum Kundus offenbar wieder ihr Schreckensregime aufgenommen — ein erfolgreicher Einsatz sieht anders aus. Die Amerikaner, die in Afghanistan ungleich höhere Verluste erlitten, reagieren inzwischen ähnlich kriegsmüde, zumal sie im Irak ebenfalls deprimierende Erfahrungen machen mussten. Zur Befriedung Syriens hatte Präsident Barack Obama deshalb nur noch einen zeitlich begrenzten Großangriff aus der Luft vorgesehen, Bodentruppen sollten nicht eingesetzt werden.

Rüsten für unbekannte Aufgaben

So werden Einsätze zur Friedenserzwingung oder zum Schutz bedrohter verbündeter Länder künftig wohl sehr kurz wie im Kongo oder in Mali, mit kleinen Truppenkontingenten wie zum Schutz des Luftraums der Türkei an der syrischen Grenze oder allein durch Luftwaffe und Marine durchgeführt. Lediglich verdeckt operierende Spezialkräfte befinden sich vor Ort — dafür ist Libyen ein Beispiel.

Die unter dem Sparzwang verkleinerte Bundeswehr, die gerade ihre neue Struktur einnimmt, reagiert darauf mit dem Versuch, auch auf heute noch unbekannte Bedrohungen breit reagieren zu können. Dafür schrumpfen die Stückzahlen einzelner Waffensysteme massiv. "Wenn wir strukturbestimmendes Großgerät wie Kampf- oder Schützenpanzer betrachten, dann ist in diesen Kategorien künftig eine Vollausstattung nicht mehr möglich, sondern nur noch 70 bis 80 Prozent", berichtete General Kasdorf. So blieben aus dem Bestand von 2800 Kampfpanzern in den 90er Jahren noch 350, die jetzt um weitere 125 reduziert werden.

(mic)
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