Analyse Deutschland - reich und ungleich

Düsseldorf · Am 15. Mai 1891 veröffentlichte Papst Leo XIII. ein Lehrschreiben, das bis heute "Mutter aller Sozialenzykliken" genannt wird. Kirchen und Gewerkschaften halten die 123 Jahre alte Kritik an Kapitalismus pur für hochaktuell.

Heute vor 123 Jahren explodierte im Vatikan eine wirtschafts- und sozialpolitische Bombe. Papst Leo XIII. veröffentlichte sein Lehrschreiben "Rerum novarum" (frei übersetzt: "Die neuen Verhältnisse"). Untertitel: "Über die Arbeiterfrage". Die Schrift wird noch heute "die Mutter aller Sozialenzykliken" genannt. Man lese im ersten Kapitel und frage sich dann, ob einem nicht manche Aussage bekannt, vor allem aktuell vorkommt:

"Die Industrie hat durch die Vervollkommnung der technischen Hilfsmittel und eine neue Produktionsweise mächtigen Aufschwung genommen; das gegenseitige Verhältnis der besitzenden Klasse und der Arbeiter hat sich wesentlich umgestaltet; das Kapital ist in den Händen einer geringen Zahl angehäuft, während die große Menge verarmt. Dies alles hat den sozialen Konflikt wachgerufen, vor welchem wir stehen."

Leo XIII., dessen Enzyklika die Grundlage für die christliche oder katholische Soziallehre gelegt hat, schrieb aus tiefer Sorge und natürlich als Kind seiner Zeit über die Auswüchse der Industrialisierung und einen zügellosen Kapitalismus. Letzteren stellt Papst Franziskus noch heute beispielsweise auf seinem südamerikanischen Heimatkontinent fest. Manche Kapitalisten angelsächsischer oder fernöstlicher Prägung, für die sozial abgefederter Kapitalismus deutscher Prägung (Stichwort: soziale Marktwirtschaft) altbacken und ökonomisch hinderlich ist, zucken zusammen, wenn sie Franziskus' bereits berühmtes Zitat aus "Evangelii gaudium" (2013) hören: "Diese Wirtschaft tötet."

Leo XIII., Johannes Paul II. (von dem allein drei Sozialenzykliken stammen) sowie Franziskus lassen sich nicht gegen eine sozial balancierte Marktwirtschaft, gegen Privateigentum sowie Streben nach individuellem Wohlstand und Glück in den Zeugenstand rufen; wohl jedoch gegen einen gierigen Kapitalismus (Helmut Schmidt: "Raubtierkapitalismus"), der nicht den Menschen und seine Rechte in den Mittelpunkt stellt, sondern die Maximierung des Profits.

Heute, im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung von Wirtschaft und Lebensumständen, sehen katholische und evangelische Kirche zunehmend Anlässe, den Geist der kirchlichen Kapitalismuskritik zu wecken. Die evangelische Kirche ist seit Jahren einer der schärfsten Kritiker etwa der globalen Finanzwirtschaft. Beide Kirchen prangern erneut Auswüchse des Kapitalismus an und appellieren an die Verantwortlichen in der Wirtschaft und der Politik, das ursprünglich westdeutsche Erfolgsmodell "soziale Marktwirtschaft" nicht nur mit neuem Leben zu füllen, sondern so wie Mercedes, Volkswagen, BMW und Aspirin zum Exportschlager made in Germany zu machen.

Kommunismus, Sozialismus, Marxismus, Kapitalismus - alle diese "Ismen" sind aus christlicher Sicht von Übel, menschenrechtswidrig. Bis auf den Kapitalismus pur sind sie allesamt tot. Sorgen um eine ungerechte Vermögens- und Einkommensverteilung im Mutterland der sozialen Marktwirtschaft machen sich nicht nur die Industriestaaten-Organisation OECD, sondern auch Sozialhistoriker wie Hans-Ulrich Wehler und eben Kirchen oder Gewerkschaften. Würde man hierzulande die Wirtschafts- und Sozialpolitik an den drei Prinzipien der christlichen Soziallehre ausrichten, wäre viel gewonnen. Die drei Prinzipien sind: Personalität, Subsidiarität, Solidarität. Die drei Grundsätze machen deutlich, warum christliche Soziallehre nicht einmal entfernt verwandt ist mit Kommunismus/Sozialismus, die den Menschen das Paradies auf Erden versprachen, ihnen aber das Alltagsleben zur Hölle machten. "Personalität" besagt, dass jeder Mensch die Freiheit hat, sein Leben ohne unnötige staatliche Einwirkung verantwortlich zu gestalten. "Subsidiarität" heißt, dass Aufgaben, welche von kleineren Einheiten übernommen werden können (zum Beispiel Kindererziehung in der Familie), nicht von größeren Einheiten übernommen werden sollen. "Solidarität" schließlich verlangt zum Beispiel, wie es das Grundgesetz so trefflich formuliert, dass "Gebrauch von Eigentum zugleich auch dem Wohl der Allgemeinheit zu dienen hat".

Nicht nur Kirchenvertreter, auch weltliche Einrichtungen werden nicht müde, vor den Gefahren des sozialen Auseinanderdriftens zu warnen. Schon in der Erklärung von Philadelphia aus dem Jahr 1944, die die Ziele der Internationalen Arbeitsorganisation skizzierte, hielten die Gründer fest, soziale Gerechtigkeit solle zu einem Eckpfeiler der internationalen Rechtsordnung gemacht werden. Es heißt darin: "Der Friede kann auf die Dauer nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden."

Die größten Mahner im weltlichen Bereich bleiben die Gewerkschaften. Sie sehen sich als Hüter eben jener sozialen Gerechtigkeit, als Kritiker eines überbordenden Kapitalismus. "Anstelle des Ziels sozialer Gerechtigkeit sind die Freiheiten des Kapital-, Waren- und Dienstleistungsverkehrs in den Vordergrund getreten", warnte etwa der neu gewählte DGB-Chef Reiner Hoffmann in seiner ersten Grundsatzrede beim Bundeskongress in Berlin.

Die Gewerkschaften sehen den Ausgangspunkt für eine gerechtere Gesellschaft in etwas, was sie vage als "gute Arbeit" beschreiben. Das Unheil liegt ihrer Meinung nach in den Flexibilisierungsinstrumenten dieser Zeit: Leiharbeit, Werkverträgen, Minijobs und Kettenbefristungen. Entsprechend forderte DGB-Chef Hoffmann, Deutschland müsse "Weltmarktführer in guten Arbeitsbedingungen" werden. "Das bedeutet nichts anderes, als Arbeit und Leben nach menschlichen Bedürfnissen zu gestalten. Das ist sicher nicht einfach in einer komplexeren Arbeitswelt."

(RP)
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