Analyse Der verklärte Unrechtsstaat

Berlin · 25 Jahre nach dem Mauerfall ist die Sicht auf die DDR verschwommen. Eine oberflächliche Verniedlichung greift um sich, Gräueltaten des Regimes geraten in den Hintergrund. Experten fordern einen wachen Blick auf die Zeit.

Wer im früheren Premierenkino der DDR in der Berliner Karl-Marx-Allee in diesen Tagen ins Kino geht, wird von einem jungen Mann in einem Hemd der "Freien Deutschen Jugend" (FDJ) an der Kasse bedient. Der Mittzwanziger findet es "interessant", wie die Kinobesucher darauf reagieren. Viele fühlten sich an "gute alte Zeiten" erinnert, manche seien auch weniger begeistert, erzählt er auf Nachfrage. 25 Jahre nach dem Mauerfall ist die Sicht auf die DDR verschwommen. Im Rückblick auf die Diktatur tun sich Gedächtnislücken auf.

Am heutigen 9. Oktober will Bundespräsident Joachim Gauck den Mut der mehrere Zehntausend Demonstranten von 1989 würdigen. Und damit dann auch so manches geraderücken. Der 9. Oktober 1989 gilt als einer der entscheidenden Wendepunkte der Revolution in der DDR - das befürchtete Blutvergießen während der Montagsdemonstration an diesem Tag blieb aus; der Machtwechsel blieb friedlich.

Die zur Schau getragene Tracht der FDJ, der staatlich geförderten Jugendorganisation der DDR, in der man als junger DDR-Bürger besser Mitglied war, ist nur ein Beispiel von verklärender DDR-Nostalgie. Es gibt auch harmlosere Formen wie Trabi-Safaris, Restaurants und Hostels in verstaubter DDR-Ästhetik. 25 Jahre nach dem Mauerfall greift die oberflächliche Verniedlichung um sich. Das erlittene Unrecht Tausender, die von der Staatssicherheit bespitzelt und in ihrem alltäglichen Leben gegängelt wurden, droht dabei in den Hintergrund zu geraten.

Nun verläuft die historische Auseinandersetzung stets in Wellen. Und der Untergang der DDR mag für manchen noch nicht lange genug zurückliegen, um einen kritischeren Umgang zuzulassen. Zu einer schleichenden Verharmlosung, die irgendwann Konsens ist, darf es allerdings nicht kommen. "Der SED-Staat vertrieb Millionen Menschen, brachte Hunderttausende in die Gefängnisse, einige Tausend Todesopfer sind zu beklagen, weitere zigtausend litten an außerrechtlicher Verfolgung und Benachteiligung", bilanzierte einst der Theologe und ehemalige DDR-Oppositionelle Ehrhart Neubert. Solche klaren Worte hört man heute eher selten.

Stattdessen trat die Linkspartei pünktlich zum diesjährigen Tag der Einheit am 3. Oktober erneut eine Debatte los über die Frage, ob man die DDR als Unrechtsstaat bezeichnen darf oder nicht. Linke, SPD und Grüne hatten sich in einem Papier für einen etwaigen Koalitionsvertrag der drei Parteien in Thüringen auf die Formulierung geeinigt, dass die DDR "ein Unrechtsstaat" gewesen sei. Der Fraktionschef der Linken im Bundestag, Gregor Gysi, war damit nicht einverstanden. "Es stimmt eben nicht, dass, wenn man kein Rechtsstaat ist, man dann automatisch ein Unrechtsstaat ist", stellte Gysi fest. Und fügte als Begründung hinzu: "Das bedeutete ja, dass die drei Westmächte legitimiert einen Staat gegründet haben, und die Sowjetunion nach 20 Millionen Opfern als Antwort keinen Staat gründen durfte." Es wird um jedes Wort gestritten.

Scheitern lassen würde aber auch Gysi eine mögliche erste Koalition unter einem linken Ministerpräsidenten nicht an der Formulierung, wie er später hinzufügte. Die frühere Linken-Parteivorsitzende Gesine Lötzsch und andere springen Gysi dabei mit teilweise abenteuerlichen Geschichtsdeutungen zur Seite. Lötzsch vergleicht Unrecht der DDR mit Unrecht in der Bundesrepublik. Als Beleg führt sie an, es gebe heute "angeblich keine Alternativen zu Waffenlieferungen in Krisengebiete, zur Privatisierung von Straßen, zur Bankenrettung, zum Rentenunrecht und schon gar keine Alternative zum Kapitalismus". Sie räumt ein, dass "in der DDR Gesetze gebrochen, Menschenrechte verletzt und Oppositionelle schikaniert und verfolgt" wurden. Ihre Betrachtung mündet dennoch in der Frage: "Kann man deshalb von einem Unrechtsstaat sprechen?"

Letztlich wird der Wille zur Regierungsbeteiligung auch bei der Linkspartei insgesamt wohl größer sein als ihre Beharrlichkeit, den Begriff aus dem Koalitionsvertrag in Thüringen zu streichen. SPD und Grüne könnten sich dies nach der öffentlichen Debatte der vergangenen Tage ohnehin nicht mehr erlauben. Ist der Streit also bloße Wortklauberei?

Mitnichten. Der frühere DDR-Oppositionelle und heutige Beauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, mahnt: "Wir müssen auch in Zukunft einen wachen Blick auf die Zeit vor dem 9. Oktober 1989 von Leipzig haben." Er ergänzt: "Es ist unbestritten, dass in der DDR das Unrecht staatlich organisiert war und dem Machterhalt der SED diente - durch systematische Unterdrückung von Menschenrechten." Auch in einem Unrechtsstaat scheine die Sonne, auch dort gebe es "privates Glück und schöne Momente": "Aber es ist und bleibt wichtig, dass wir dort aufklären, wo Unrecht geschehen ist."

Es ist daher kein Zufall, dass Jahn - wie sein Vorgänger im Amt an der Spitze der Stasi-Unterlagenbehörde, der heutige Bundespräsident Gauck - sensibel ist bei der Wortwahl. Der heute geläufige Begriff der "Wende" als Synonym für den Umsturz von 1989 etwa ist eigentlich ein Begriff der DDR-Machthaber. SED-Generalsekretär Egon Krenz verwendete ihn, um das Volk auf einen zu späten Kurswechsel der Führung einzuschwören. Gauck verwendet ihn nicht.

Heute reist Gauck mit den Staatspräsidenten von Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei zur Gedenkfeier für die Montagsdemonstrationen in Leipzig an - eine große Würdigung der Ereignisse von 1989. Gaucks Botschaft lautet: Ohne den Mut der Bürger, die am 9. Oktober zu Zehntausenden gegen den Unrechtsstaat auf die Straße gingen, wären das Ende der DDR und die Wiedervereinigung nicht möglich gewesen.

(RP)
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