Ein Jahr Türkei-Putsch Der Strippenzieher?

Istanbul · Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan beschuldigt seinen einstigen Weggefährten Fethullah Gülen, den Putschversuch initiiert zu haben.

 Fethullah Gülen (76) lebt seit 1999 im selbstgewählten Exil in Saylorsburg im US-Bundesstaat Pennsylvania.

Fethullah Gülen (76) lebt seit 1999 im selbstgewählten Exil in Saylorsburg im US-Bundesstaat Pennsylvania.

Foto: dpa, tb pt wst jhe

Der Staatspräsident der Türkei wäre gerne Profifußballer geworden. Als Jugendlicher galt Recep Tayyip Erdogan sogar als talentiert. Er hatte Ambitionen, die sein Vater jedoch nicht teilte: Er verwehrte Erdogan eine Karriere als Sportler und schickte ihn stattdessen auf ein religiös orientiertes Gymnasium. Seitdem besitzt Erdogan einen tiefen Glauben. 1981 machte er an der Fakultät für Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften der Marmara-Universität in Istanbul seinen Abschluss.

Im selben Jahr entschied ein Imam aus der Provinz Erzurum im Osten der Türkei, seine Predigertätigkeit aufzugeben und sich ganz dem Aufbau seiner zuvor gegründeten Bewegung zu widmen. Der Imam heißt Fethullah Gülen, und seine Bewegung ist die "Hizmet" ("Dienst").

Gülen errichtete Schulen und Bildungseinrichtungen. Die Jugend von heute ist die politische Führung von morgen, dachte Gülen. Denn mit der bisherigen säkularen Führung war er überhaupt nicht einverstanden. Den Militärputsch im März 1971 begründete die Armee mit ihrer Sorge vor "reaktionären religiösen Umtrieben". Gülen, der seit 1967 als Imam religiöse Sommerlager für Jugendliche organisiert hatte, wurde festgenommen. Spätestens zu jener Zeit merkte Gülen, dass er den Staat nicht frontal angreifen konnte. Er musste ihn unterwandern.

Mitte der 80er Jahre wurden Gülen und seine Bewegung immer berühmter. Anhänger gelangten in wichtige Positionen, vor allem bei der Polizei und in der Justiz.

Als 1996 die islamistische Wohlfahrtspartei Necmettin Erbakans an die Macht gelangte, distanzierte sich Gülen von ihr. Erdogan dagegen war mittlerweile im Vorstand der Partei und Erbakan sein politischer Ziehvater. 1994 erklomm Erdogan das Amt des Bürgermeisters von Istanbul.

Vier Jahre später verbot das türkische Verfassungsgericht die Wohlfahrtspartei. Ihr wurden Sympathien zum Dschihad und zur Einführung der Scharia vorgeworfen, was dem staatlichen Grundsatz des Laizismus widersprach, mit dem Erdogan nichts anfangen konnte. Er rebellierte und wurde wegen Aufstachelung der Bevölkerung zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Vier Monate musste er absitzen. In dieser Zeit trennte er sich ideologisch von Erbakan und gründete 2001 die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP).

Gülen gefiel die demokratisch-konservative Ausrichtung, die die AKP propagierte. Er begann, Erdogan zu unterstützen. Gülen lebte mittlerweile im selbstgewählten Exil in den USA, weil kurz zuvor ein heikler Videomitschnitt einer Ansprache von ihm öffentlich wurde. Darin sagt Gülen an seine Anhänger gerichtet: "Ihr müsst in die Arterien des Systems eindringen, ohne dabei bemerkt zu werden. Ihr müsst warten, bis der richtige Moment gekommen ist, bis ihr die gesamte Staatsmacht an euch gerissen habt." Gülen bestreitet die Echtheit des Videos.

Erdogans AKP gewann 2002 dank Gülens Hilfe erstmals eine Parlamentswahl. Es sollten zwei weitere folgen (2007 und 2011). Erdogan revanchierte sich: Anhänger Gülens stiegen im Staatsapparat auf. Gülen wurde zum Koalitionspartner ohne Partei.

Doch nachdem alle politischen Gegner der beiden ausgeschaltet waren, zerbrach die Allianz am Streit um die Aufteilung der Kriegsbeute. Erdogan, damals noch Ministerpräsident, ließ die Nachhilfezentren Gülens schließen. Damit versiegte eine der wichtigsten Einnahmequellen der Hizmet-Bewegung. Gülen tobte.

Kurz darauf wurden der Presse Mitschnitte geheimer Telefonate von Erdogan und seinen Angehörigen zugespielt. Die Staatsanwaltschaft leitete ein Korruptionsermittlungsverfahren gegen Erdogan ein, der hinter all dem Fethullah Gülen vermutete. Erdogan erklärte Hizmet zur terroristischen Vereinigung. Eine weltweite Hetzjagd begann.

Nach dem Putschversuch vor einem Jahr gab Erdogan bekannt, Gülen sei der Drahtzieher. So steht es auch im Abschlussbericht des Untersuchungssausschusses des türkischen Parlaments. Viele westliche Staaten zweifeln jedoch daran. So sagte der Chef des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, dem "Spiegel": "Die Türkei hat auf den verschiedensten Ebenen versucht, uns davon zu überzeugen. Das ist ihr aber bislang nicht gelungen." Der Auswärtige Ausschuss im britischen Unterhaus vermutet eine Allianz aus Gülen-Anhängern und säkularen sowie opportunistischen Militärs hinter dem versuchten Machtwechsel. Gülen behauptet, der Umsturzversuch sei eine Inszenierung Erdogans, der dadurch seine Macht ausbauen wolle.

(jaco)
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