Der Sensationsfund

Der Teilchenbeschleuniger am Cern ist mit 27 Kilometern Länge das größte Experiment der Menschheit. Dort wurde ein besonderes Teilchen entdeckt: die fehlende Klammer zur Erklärung des Aufbaus der Welt.

Genf Manchmal müssen auch Wissenschaftler weinen und verdrücken dann ein paar Tränen. Peter Higgs hatte gestern so einen Moment. Erst gab es Applaus, als der britische Physiker den Präsentationsraum im Forschungszentrum Cern betrat, 35 Minuten später hatte Joe Incandela, einer der Sprecher der Cern-Physikergruppen, den entscheidenden Satz gesagt: "Wir haben ein neues Teilchen entdeckt, bei dem einiges dafür spricht, dass es das gesuchte Higgs-Teilchen ist." Eine vorsichtige Formulierung. Die Wahrscheinlichkeit, dass es vielleicht doch nur ein Messfehler ist, ist zwar klein, aber noch groß genug, dass die Physiker das Wort Sicherheit nicht benutzen mögen. Zudem könnte es auch ein ähnliches, aber nicht das Higgs-Teilchen sein. Doch es gibt zwei Hinweise: Zum einen besitzt das neue Teilchen etwa die Energie, die dem Higgs-Teilchen vorausgesagt wurde. Zum anderen lieferten zwei Detektoren die gleiche Aussage. Ende des Jahres sollen genug Daten vorliegen, dass die Zweifel schwinden. Vielleicht noch rechtzeitig vor der Nominierung der Nobelpreisträger, der dann wohl Peter Higgs heißen dürfte.

Die Euphorie am Cern kannte keine Grenzen. "Einige hier haben seit Tagen nicht mehr geschlafen", sagte Joe Incandela. Der 83-jährige Peter Higgs sagte, er habe nicht geglaubt, dass er diesen Tag noch erleben werde. Seit 48 Jahren suchen die Physiker nach dem Teilchen, das seinen Namen trägt. Sie gaben mindestens neun Milliarden Dollar dafür aus. Der Brite prägte jahrelang den Arbeitsalltag von Zehntausenden Physikern. Mehr als 6000 arbeiten allein am Cern, einer eigenen kleinen Stadt.

Am 16. Juli 1964 war Higgs als 35-Jährigem beim Einsortieren von Zeitschriften in der Bibliothek in Edinburgh der Einfall gekommen, wie eine Lücke in der Theorie zum Aufbau der Materie geschlossen werden könnte. Vier Tage hat Higgs gerechnet und auf anderthalb Seiten mit vier Formeln alles erklärt. Die erste Fachzeitschrift lehnte seinen Aufsatz ab – irrelevant. Erst der zweite Versuch klappte. Ein Jahr später lud Freeman Dyson, Physik-Theoretiker der US-Elite-Universität Princeton, Higgs zum Vortrag ein. Der Durchbruch.

Doch damit ist Higgs' Beitrag schon erzählt. Eine Reihe anderer Physiker verfeinerte seine Ideen; als Higgs die 40 überschritten hatte, erkannte er, dass er mit der neuen Mathematik und den vielen jungen Leuten nicht fertig wurde. Bis 1996 hat er noch in Edinburgh unterrichtet, aber die Welt der Computer in der theoretischen Physik wurde nicht seine Heimat. Auch den Begriff Higgs-Teilchen vermeidet er und bezeichnet es lieber mit den Namen sechs weiterer Forscher.

Dass Cern sein Ergebnis nicht klarer beschreiben kann, hat einen einfachen Grund. Die Physiker müssen das gesuchte Teilchen in einer Fülle von Millionen anderen Teilchen finden. Im Teilchenbeschleuniger werden mit der größten Energie, die weltweit zur Verfügung steht, Teilchen aufeinandergeschossen und die Splitterprodukte der Kollision untersucht. Dabei gibt es nicht nur einen Zusammenstoß, auch die Trümmer der Kollision stoßen ihrerseits zusammen und verursachen Zerfallsprodukte. Zudem sind viele der entstehenden Teilchen auch noch instabil: Auch das Higgs-Teilchen zerfällt binnen einem Milliardstel einer Millionstel Sekunde in weitere Teilchen. Eine unübersichtliche Situation.

Dennoch ist das Geschehen im Teilchenbeschleuniger einigermaßen verstanden. Die Physiker erwarten aus der Standardtheorie zum Aufbau der Materie bei ihren Experimenten ein bestimmtes Muster an Signalen. Je exakter der gemessene Zerfall mit der Theorie übereinstimmt, desto besser ist diese. Die Schwierigkeit besteht darin, die wenigen Higgs-Teilchen in der Menge der Signale zu identifizieren. Deshalb läuft im Cern nicht ein Experiment zur Entdeckung des Teilchens, sondern gleich einige Billionen davon. Mit jedem neuen Zusammenstoß wird der Unterschied zwischen Grundrauschen und Teilchen deutlicher. Cern ist der technische Superlativ.

Doch arbeitslos werden die Physiker nach der Erledigung dieser Aufgabe nicht. Ihre Forschung bewegt sich weiter zum Anfang des Universums, hin zum Urknall. Ihre Technik wird noch größere Energien erzeugen und deshalb einen noch präziseren Einblick in den Beginn des Weltalls erlauben. Ein amerikanischer Verleger hat das Higgs-Teilchen mal "Gottesteilchen" getauft. Doch mit Gott hat es nichts zu tun, nicht einmal mit der Schöpfung. Es ist nur eine notwendige Bedingung für das Leben.

(RP)
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